Fall Debra Milke:Geschichte eines beispiellosen Justiz-Skandals

Debra Milke

"Sie fühlt sich bestätigt - zum ersten Mal, seit dieser Alptraum begonnen hat": Die wegen Anstiftung zum Mord verurteilte Debra Milke könnte bald freikommen.

(Foto: dpa)

Sie stand bereits kurz vor der Hinrichtung, hatte die Henkersmahlzeit gewählt: Seit 23 Jahren sitzt die gebürtige Berlinerin Debra Milke in einer US-Todeszelle, weil sie den Mord an ihrem Sohn in Auftrag gegeben haben soll. Jetzt hat ein Gericht das Urteil aufgehoben - ein Urteil, in dessen Vorfeld schwere Fehler gemacht wurden.

Von Bastian Obermayer und Nicolas Richter

Am Abend des 3. Dezember 1989 begegnet Debra Milke dem Mann, dessen Aussage sie in die Todeszelle bringen wird: Detective Armando Saldate vom Phoenix Police Department. Debra Milkes vierjähriger Sohn Christopher wird seit dem Nachmittag des Vortages vermisst, und die damals 26-Jährige wartet in einem Befragungszimmer der Polizeistation in Florence, Arizona, darauf, eine Aussage dazu zu machen. Es wird ihr bis heute letzter Tag in Freiheit bleiben.

Saldate hat die gerade mal 60 Meilen von Phoenix nach Florence an jenem Abend spektakulär mit dem Hubschrauber zurückgelegt, und auch sein Auftritt wird großes Kino sein.

Bad-Cop-Kino.

Kurz vor acht Uhr betritt er den Raum, bittet alle außer Debra Milke zu gehen und schließt die Tür. Es gibt keine Zeugen. Entgegen der ausdrücklichen Dienstanweisung seines Vorgesetzten nimmt Saldate das Gespräch nicht auf Band auf. Er rückt seinen Stuhl unmittelbar vor den ihren und setzt sich. Dann beugt er sich nach vorne, sein Gesicht ist jetzt nur noch eine Armlänge von ihrem entfernt. Das Verhör kann beginnen.

Urteil ohne Beweise

Tatsächlich bekommt Armando Saldate an diesem Abend sein Geständnis: Debra Milke gibt zu, dass sie ihren Sohn Christopher ermorden ließ. Das jedenfalls behauptet der Polizist. Milke hat nie ein Geständnis unterschrieben und bestreitet bis heute, die Tat gestanden und, erst recht, sie begangen zu haben.

Es gibt keine anderen Beweise, nur dieses Geständnis. Selbst seine handschriftlichen Aufzeichnungen hat Saldate angeblich vernichtet, nachdem er seinen Bericht geschrieben hatte. Dennoch wird Debra Milke, eine in Berlin geborene Amerikanerin, am 12. Oktober 1990 wegen Mordes, Verschwörung zum Mord, Kindesmissbrauch und Entführung schuldig gesprochen. Das Strafmaß ist der Tod.

Jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, könnte sie in die Freiheit zurückkehren. Ein Berufungsgericht hat vergangene Woche angeordnet, ihren Prozess neu aufzurollen - oder sie aus der Haft zu entlassen. Der Vorsitzende Richter Alex Kozinski begründet seine Entscheidung damit, dass das Urteil gegen Milke allein auf der Aussage eines Polizisten basiert, der seine Glaubwürdigkeit längst verloren hatte. Jener Saldate nämlich hatte in seinen 21 Dienstjahren vor Milkes Verurteilung immer wieder die Rechte von Verdächtigen missachtet, Kompetenzen überschritten und sogar mehrfach unter Eid vor Gericht gelogen. Davon haben die anklagende Staatsanwaltschaft und Saldates Vorgesetzte gewusst. Aber nicht die Verteidigung und auch nicht die Geschworenen. "Dies ist ein verstörender Fall", sagte Richter Kozinski.

Damit ist Debra Milke wohl das Opfer eines doppelten Justizversagens. Zum einen ist sie an einen notorisch unzuverlässigen Polizisten geraten, dessen Verfehlungen bis in die siebziger Jahre zurück aktenkundig sind, und der im Grunde nicht mehr bei derart gravierenden Verbrechen hätte ermitteln dürfen. Zum anderen vertuschten die Behörden des US-Bundesstaates Arizona die Vorgänge und schickten Debra Milke in den Todestrakt, statt Saldates Machtmissbrauch offenzulegen.

Häftling Nummer 83533

Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist dennoch kein Freispruch. "Sie könnte schuldig sein, selbst wenn Saldate ihr Geständnis nur erfunden hätte", schreibt Richter Kozinski. Aber sie wäre, merkt er an, wohl nicht verurteilt worden, wenn die Geschworenen die Wahrheit über den Polizisten gewusst hätten.

Noch sitzt Debra Milke, heute 49, Häftling Nummer 83533, im Arizona State Prison Perryville, aber "Debra ist in Ekstase nach diesem Beschluss", sagt ihre Anwältin, Lori Voepel. "Sie fühlt sich bestätigt - zum ersten Mal, seit dieser Alptraum begonnen hat." Allerdings sei ihre Mandantin frustriert darüber, dass der Staat Arizona die Entscheidung Kozinskis anfechten wird. Das bedeutet nämlich, dass sie vorerst im Gefängnis bleiben muss - bis der Fall, der seit zwei Jahrzehnten durch die Instanzen geht, endlich in der letzten angekommen ist. Aber immerhin hat die US-Justiz anerkannt, dass jenes Verhör im Dezember 1989 und das daraus angeblich hervorgegangene Geständnis nicht zu einer Verurteilung hätten führen dürfen.

Wer Saldates Vernehmungsbericht von damals liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Polizist längst zu wissen glaubte, was geschehen war. Und dass er nicht gewillt war, sich von seiner Wahrheit abbringen zu lassen.

Auszug aus Detective Armando Saldates Bericht vom 6. Dezember 1989, 8:40 Uhr. Interview vom 3. Dezember 1989 mit Debra Jean Milke, weiblich, geboren am 3.10.1964 in Berlin, 172 cm, 73 Kilogramm: "Ich habe Debra erklärt, dass ihr Sohn Chris in der Wüste gefunden wurde und dass er erschossen wurde. Debra fing sofort an 'Was? Was?' zu schreien. Sie begann Geräusche zu machen, als würde sie weinen, aber es waren keine Tränen zu sehen. Ich habe ihr gesagt, ich würde ihr Weinen nicht dulden, und dass sie still sein solle. Dann habe ich ihr ihre Rechte vorgelesen."

Hinrichtung eines weiteren Verurteilten ist geplant

Vor Gericht wird Saldate sagen, Milke habe "versucht zu weinen". Was er damit bezweckt, scheint klar zu sein: Wer keine Tränen hat, der weint nicht. Und wer nicht weint, wenn das eigene Kind stirbt, ist gefühlskalt und damit schon mal verdächtig. Der unbarmherzige Ton gehört zu Saldates Verhörtechnik, auf die er stolz ist. Er sei sehr direkt, wird er dem Gericht erklären, gerne konfrontativ und provozierend.

"Wieder tat Debra so, als weine sie, und sie schrie, aber ich sah keine Tränen. Ich sagte ihr wieder, dass ich das nicht dulde. Ich erklärte ihr, dass ich nur aus einem einzigen Grund hier war: um die Wahrheit zu hören, und dass ich Lügen nicht dulde."

Auf die Spur Debra Milkes kam Saldate am Nachmittag jenes 3. Dezember. Der Polizist verhörte einen gewissen Roger Scott, der unter dem dringenden Verdacht stand, mit einem Mann namens Jim Styers für das Verschwinden des kleinen Christopher Milke verantwortlich zu sein. Styers, ein psychisch labiler Vietnam-Veteran mit posttraumatischen Störungen, war Debra Milkes Mitbewohner. Roger Scott, ein Alkoholiker, war mit ihm befreundet.

Tatsächlich gestand Roger Scott die Beteiligung an dem Mord, allerdings in verschiedenen Versionen. Eine Version lautete, Jim Styers, Milkes Mitbewohner, sei von dem Kind genervt gewesen und habe es deswegen erschossen. Eine andere war: Debra Milke habe Styers darum gebeten, weil sie ihren Sohn loswerden wollte. Gemeinsam ist den Versionen, dass Scott nicht geschossen haben wollte.

Jim Styers wiederum behauptete, Scott habe geschossen - und Debra Milke habe mit der Sache nichts zu tun. Beide wurden wegen des Mordes an Christopher Milke zum Tode verurteilt. Bei Scott wurde später Schizophrenie diagnostiziert und die Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt. Dass er Milke der Anstiftung beschuldigt hatte, wurde vor Gericht als Hörensagen verworfen. Roger Scott weigerte sich, im Verfahren gegen Milke auszusagen.

Jim Styers Hinrichtung ist nach wie vor geplant. Er bleibt dabei, dass Debra Milke unschuldig sei. Die einzige Verbindung Debra Milkes zu dem Mord an ihrem Sohn war das von Armando Saldate niedergeschriebene Geständnis. Es fehlte jeder Sachbeweis für ihre Beteiligung an der Tat.

Verstoß gegen das Rechtssystem

Vor Gericht stand also sein Wort gegen ihres, das Wort eines erfahrenen Polizisten und geübten Zeugen gegen das Wort einer geschiedenen, alleinerziehenden Mutter, die nicht gerade eine heile Welt vorweisen konnte: Debra Milke wurde als Tochter eines US-Soldaten geboren, der zum Alkoholiker wurde und die Familie tyrannisierte. Auch Milkes Ex-Mann, der Vater ihres Sohnes, war ein Trinker. Außerdem war er ein Gewohntheitskrimineller, der meist in Gefängnissen saß.

Die verkorkste Existenz ihres Ex-Mannes soll laut Saldate auch der Grund für Debra Milke gewesen sei, ihren Sohn töten zu lassen. In seinem Bericht behauptet Saldate, sie hätte ihm gesagt: "Ich wollte einfach nicht, dass er wird wie sein Vater."

Die Jury glaubte seinen Ausführungen. Allerdings wohl nur, weil die Justiz Arizonas gegen ein fundamentales Prinzip des US-Rechtssystems verstieß: Dieses besagt, dass Staatsanwälte nicht nur alles vortragen müssen, was einen Angeklagten belastet, sondern auch alles, was ihn entlastet. Und dazu gehören selbst Fakten, die Zeugen der Anklage diskreditieren und die Anklage unterminieren könnten.

Aber obwohl Milkes Verteidigung immer wieder klagte, dass ihr der Zugang zu Saldates Dienstakte verweigert werde, sorgte die Justiz nicht dafür, dass der Hintergrund des Polizisten - des einzigen Zeugen für Milkes angebliches Geständnis - ausgeleuchtet werden konnte.

Vorwürfe gegen Saldate mehren sich

Je länger Milkes Anwaltsteam sich aber durch die Instanzen kämpfte, desto mehr Unterlagen über Saldates Vorgeschichte tauchten auf. Es stellte sich unter anderem heraus, dass Saldate nachweislich viermal unter Eid gelogen hatte - davon zweimal, um Angeklagte schuldiger wirken zu lassen, als sie waren. In vier weiteren aktenkundigen Fällen hatten Gerichte Geständnisse anderer Beschuldigter verworfen oder Schuldsprüche widerrufen, weil Saldate die Rechte der Verdächtigen massiv missachtet hatte.

So wurde 1984 in Saldates Akte festgehalten, dass er einen Verdächtigen verhört hatte, der nach einer Schädelfraktur verwirrt in einem Krankenhausbett lag. Dessen Aussagen wurden anschließend sogar in eine Anklage aufgenommen, obwohl der Mann zur Zeit seiner Befragung durch Saldate nicht einmal in der Lage war, den Ärzten seinen Namen, das Jahr oder den gegenwärtigen Präsidenten zu nennen.

Die ganze Wahrheit

Ein weiterer Vorfall datiert zurück bis ins Jahr 1973: Damals suspendierte die Polizei Saldate für fünf Tage vom Dienst. Er hatte eine Autofahrerin wegen eines kaputten Rücklichts angehalten, sich zu ihr ins Auto gesetzt, sich "gewisse Freiheiten" genommen und sich anschließend mit ihr zum Sex verabredet.

Internen Ermittlern gestand er diese Geschichte erst, nachdem er am Lügendetektor durchgefallen war. Am Ende des Disziplinarverfahrens hieß es, Saldates "Ehrlichkeit, Kompetenz und Zuverlässigkeit" stünden in Frage.

Als im ersten Prozess Wort gegen Wort stand, wäre dieser Eintrag in der Dienstakte unschätzbar wertvoll gewesen für die Verteidigung. Und tatsächlich hätte die Anklage das Dokument damals offenlegen müssen, was sie aber nicht tat - ein offensichtlicher Verstoß gegen das Grundrecht auf ein faires Strafverfahren.

Die ganze Wahrheit über Saldate wurde erst bekannt, nachdem Milkes Verteidigung in einem Kraftakt zehn Mitarbeiter in die örtliche Gerichtskanzlei schickte und Saldates Namen in sämtlichen Justizakten der Jahre 1982 bis 1990 suchen ließ. Nach 7000 Stunden Arbeit hatten sie, was die Behörden ihnen illegaler Weise fortwährend verweigert hatten: eine Dokumentation der vielen Verfehlungen Saldates und damit das Fundament für die jetzige Entscheidung des Berufungsgerichts.

Die Henkersmahlzeit war bereits ausgewählt

Dennoch wäre es für Debra Milke beinahe zu spät gewesen: Anfang 1998 schien ihre Hinrichtung unausweichlich zu sein. Sie hatte schon ihre Henkersmahlzeit ausgewählt, Zeugen für die Hinrichtung bestimmt und mit dem Anstalts-Geistlichen gesprochen. Sogar der Gefängnisarzt war schon bei ihr gewesen und hatte ihre Venen abgetastet, um herauszufinden, wo er die Giftspritze - "eine intravenöse Injektion von Substanzen in Mengen, die ausreichen, den Tod herbeizuführen" - am besten setzen könnte. Dann konnte ihr Verteidiger doch eine Verschiebung erwirken.

"Mein Körper ist nur noch Hülle", so beschrieb Debra Milke sich danach.

Auf diplomatische Hilfe aus Deutschland konnte sie nicht hoffen: Milke stammt zwar von einer deutschen Mutter ab, besitzt aber selbst nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. So durfte sich der deutsche Honorarkonsul in Arizona nicht im Namen der Bundesrepublik für die Inhaftierte einsetzen.

In seiner Entscheidung hält Richter Alex Kozinski ausdrücklich fest, dass die Staatsanwaltschaft nicht nur ihre Pflichten zur Offenlegung von Beweisen vernachlässigt, sondern Saldates Geschichte "aktiv vertuscht" habe. Die Gerichte im Bundesstaat Arizona hätten es gleichzeitig versäumt, die Rechte der Angeklagten zu schützen. Mehr staatliches Versagen in einem einzigen Kriminalfall ist - in Rechtsstaaten jedenfalls - kaum möglich.

Niemand weiß, wie lange es noch dauert

Der Staat Arizona allerdings gibt sich noch nicht geschlagen. Generalstaatsanwalt Tom Horne hat erklärt, Debra Milke habe die Tötung ihres Sohnes veranlasst, dies sei ein schreckliches Verbrechen. Deswegen werde er persönlich in Washington plädieren, falls der Fall vor das Oberste Gericht der USA gelange.

Sollte der Staat Arizona mit seinen nächsten Rechtsmitteln scheitern, muss er einem örtlichen Bundesgericht zunächst einmal die komplette Personalakte Saldates aushändigen. Anschließend dürfte das Gericht die Freilassung Debra Milkes anordnen, es sei denn, der Staat verlangt einen neuen Strafprozess. Wie lange sich all das noch hinzieht, ob über Wochen, Monate oder Jahre, ist noch völlig unklar.

Detective Armando Saldate wurde, nachdem er den Fall Milke in kürzester Zeit und unter dem Beifall der örtlichen Medien gelöst hatte, zum Constable gewählt - ein angesehener Posten am Gericht, eine Mischung aus Sheriff und Gerichtsvollzieher. Heute soll er als Rentner in Phoenix leben. Würde der Fall neu aufgerollt, müsste Saldate wohl erneut als Zeuge erscheinen. Er, der Debra Milkes Mutter nach der Totenfeier für Christopher Milke gesagt hatte, ihre Tochter sei "schuldig wie die Hölle und das Böse".

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