Anschlag in Boston:Wie Terroristen die Macht der Bilder nutzen

Anschlag in Boston: Während sich die einen um die Verletzten kümmern, verbreiten die anderen Bilder und Informationen in Echtzeit über ihre Smartphones.

Während sich die einen um die Verletzten kümmern, verbreiten die anderen Bilder und Informationen in Echtzeit über ihre Smartphones.

(Foto: AP)

Nirgendwo standen in Boston mehr Kameras als an der Ziellinie, nirgendwo war die Aufmerksamkeit höher. Die Wucht der Inszenierung haben Terroristen schon immer für sich genutzt. Doch kaum jemals zuvor hat sie die Menschen über soziale Netzwerke so ungefiltert erreicht wie beim Anschlag auf den Bostoner Marathon.

Von Christopher Pramstaller

Die Bombe explodiert direkt neben der Ziellinie. Dort, wo die Strecke zu Ende ist. Wo die Läufer im Adrenlinrausch nach Stunden der Anstrengung die Erleichterung verspüren. Doch einige erreichen das Ziel nicht, werden stattdessen von der Druckwelle zu Boden gerissen, es bricht Panik aus.

Nur wenige Minuten später sind Bilder und Videos des Terroranschlags im Internet. Über Twitter, Youtube, Vine oder Instagram sind sie für jeden Nutzer einsehbar. Opfer mit offenen Wunden, Blutlachen, Rauch - der vermeintlich direkte Blick in das Zentrum des Chaos verbreitet Schrecken. Als sich der Rauch auflöst, sind zwei Menschen tot. Stunden später erliegt ein drittes Opfer seinen Verletzungen.

"Ihr seid verwundbar." Die Botschaft von Boston ist eindeutig. Auch wenn die Sicherheitsvorkehrungen noch so hoch sind: Selbst dort, wo die Polizei jeden Gullideckel kontrolliert und das Geschehen genauestens beobachtet, bleibt Verwundbarkeit. Das Gefühl der vermeintlich umfassenden Sicherheit bricht in Sekundenbruchteilen in sich zusammen.

Egal, wer für den Anschlag verantwortlich ist, die Täter haben ein erschreckendes Gespür für die Symbolik eines Terroranschlags gezeigt. Nirgendwo waren mehr Kameras, nirgendwo haben mehr Menschen das Ereignis verfolgt. Und an keiner anderen Stelle wäre die unmittelbare Aufmerksamkeit höher gewesen als an der Ziellinie. Jede Sekunde des Anschlags ist in zahllosen Clips aus allen nur denkbaren Einstellungen zu sehen. Jedes kleinste Detail wurde mit Smartphones festgehalten und hat sich innerhalb weniger Minuten auf der ganzen Welt verbreitet. Ungefiltert, nahezu in Echtzeit. Wer will, kann das Grauen mit all seinen Facetten ansehen. Und genau das ist es, was die Terroristen bezwecken.

Terroristen haben schon immer die Wucht der Inszenierung genutzt. Sie sind sich der Macht der Bilder nicht nur bewusst. Sie nutzen Medien für ihre Propaganda und instrumentalisieren sie für ihre Zwecke. Sie kalkulieren das Verhalten der Medien und der sozialen Netzwerke mit ein. Die Kommunikation über den Anschlag wird relevanter als der Anschlag selbst. Es sind die Bilder, die in die Welt getragen werden. Sie sind es, die tagelang die Berichterstattung dominieren werden und den Eindruck des Geschehenen stärker prägen als jede direkte Erfahrung.

Der Anschlag auf das World Trade Center 2001 hat das deutlicher gemacht als alles bisher dagewesene. Die in die Türme einschlagenden Flugzeuge werden in ihrer Symbolik kaum je zu überbieten sein. Doch damals dauerte es noch Stunden, wenn nicht sogar Tage, bis alle Amateur-Videos von Fernsehsendern aufgegriffen wurden und langsam in der Öffentlichkeit verbreitet wurden. Mit der flächendeckenden Verbreitung von Smartphones und überall verfügbarem Internetzugang hat sich das verändert. Nur Minuten nach dem Anschlag wurde das Hashtag #BostonMarathon weltweit zum trending topic. Der Social-News-Aggregator "Reddit" sammelte in einem Thread sofort Augenzeugenberichte, Medienbeiträge und Behördeninformationen.

Abgeschnitten von medialen Kanälen

Wären die Bilder nicht vorhanden - das Ereignis würde in der von Medien und sozialen Netzwerken strukturierten Welt weitaus weniger wahrgenommen. Das zeigt sich bei Konflikten, die weniger stark an die Kommunikationskanäle angebunden sind. Egal ob Syrien, Irak, Mali oder Pakistan: Oft sind es auch die fehlenden Bilder und Videos, die die Anschläge und Konflikte so weit weg erscheinen lassen.

Im Kampf um die Bilder aus Boston haben nicht nur die Terroristen die weltweite Öffentlichkeit erreicht. Auch die USA haben ihre Symbolik gefunden. Sie wird verkörpert durch Bill Iffrig. Der 78-jährige Marathonläufer wurde durch die Explosion nur wenige Meter vor der Ziellinie zu Boden gerissen. Ein Helfer brachte ihn wieder auf die Beine. Iffrig erreichte das Ziel.

Im Zuge der Berichterstattung über den Anschlag in Boston verzichtet Süddeutsche.de bewusst auf die Veröffentlichung von Fotostrecken und Videos mit blutigen Bildern der Opfer. Uns ist bewusst, dass andere News-Seiten, auf die wir - nach sorgfältiger Prüfung - in unseren Texten verlinken, derartige Fotos möglicherweise zeigen. Wir glauben jedoch, dass in diesen Fällen der Informationsgehalt der verlinkten Artikel so hoch ist, dass Verweise dennoch gerechtfertigt sind.

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