Sterben und Tod als literarisches Thema:Wenn der letzte Rest Zukunft verbraucht ist

Bestattungsgebühren im Freistaat

Urnen in einem Bestattungsinstitut in Wiesbaden: Keiner kann daran zweifeln, dass die Zukunft nur eine absolute Gewissheit bereithält, die des eigenen höchstpersönlichen Todes.

(Foto: dpa)

Auffällig viele Bücher handeln in der aktuellen deutschen Gegenwartsliteratur vom Sterben und vom Tod: Dabei ist der Gegenstand nicht ganz leicht zu bearbeiten, viel schwerer etwa als die Liebe. Es kommt auf den richtigen Ton an.

Von Burkhard Müller

Es ist auffällig, wie viele belletristische Neuerscheinungen der letzten Monate sich mit Tod und Sterben befassen. Und zwar nicht nur nebenher, weil zum Kosmos des Lebens, wie die Literatur ihn entfaltet, eben auch die Sterblichkeit des Menschen gehört; sondern als ihrem zentralen Thema und Blickpunkt.

Schon die Titel dieser Bücher sagen es, direkt oder indirekt. "Aller Tage Abend" heißt der Roman von Jenny Erpenbeck, "Soutines letzte Fahrt" eine Erzählung von Ralph Dutli, ganz ungeschminkt "Geschichten vom Sterben" die Koproduktion der Ärztin Petra Anwar und des Autors John von Düffel. "Außer sich" von Ursula Fricker und "Nur ein Schritt bis zu den Vögeln" von Christof Hamann verschleiern ihr Thema nur halb.

Und wenn David Wagner den Erfahrungsbericht über seine Leber-Transplantation, für den er vor kurzem den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, einfach "Leben" ennt, dann verrät solche inständige Anrufung, wie nah das Gegenteil ist.

Es gibt natürlich in der Literatur immer Modewellen. Eine Zeitlang ging sie den unbewältigten Vätern nach, oder sie verfolgte den Prozess des Erwachsenwerdens in der jungen BRD und der alten DDR.

Aber um Tod und Sterben als exklusivem Gegenstand hatte sie doch eher einen Bogen gemacht, und mit gutem Grund. Wenn man das Leben sozusagen gegen den Strich erzählt, also vom Schluss her, der alles, was war, es mag gut oder schlecht gewesen sein, auslöscht: Dann erscheint das Lebendige insgesamt in einem höchst fragwürdigen und unbehaglichen Licht.

Der Begriff von der Zukunft im Wandel der Zeit

Das Leben, hat Jean Améry gesagt (der von eigener Hand starb), sei der Bau eines Hauses, das pünktlich zum Richtfest abgerissen würde. Dieser Wahrheit kann man nicht entgegentreten; nur ausweichen.

Gestorben wird immer, darüber gesprochen immer ungern. Woher also rührt die Häufung solcher Bücher in jüngster Zeit? Dass Menschen nicht mehr im Kreis ihrer Angehörigen und im Schoß religiösen Trostes sterben, sondern zumeist an versteckter Stelle, vorwiegend allein und nur noch fallweise von jenseitigen Gewissheiten beschwichtigt, das ist ja schon länger so. Noch etwas anderes muss passiert sein, um dem existenziellen Dauerbrenner aktuelle Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Es hat wohl mit dem Begriff zu tun, den sich eine Gesellschaft von der Zukunft macht. Zukunft gibt es zu jeder Zeit; aber man denkt sich je etwas Verschiedenes dabei.

Das fortgesetzte Leben

In Notzeiten, wie es sie in den letzten hundert Jahren reichlich gegeben hat, tritt Zukunft als die Hoffnung auf, auch morgen etwas zum Essen oder zum Heizen zu haben, ein kurztaktiges und anspruchsloses Konzept. Wird es besser und geht es bergauf, fasst man Etappenziele für die nächsten Jahre ins Auge, Haus, Auto, Karriere, und in jedem Fall sollen es die Kinder mal besser haben, mindestens die eigenen, vielleicht aber auch die anderer Leute.

Solchen Zielen kann man auch im Verband nachstreben, man kann auf die Verbesserung der Welt im Ganzen hinarbeiten, an Revolutionen oder mindestens Reformen glauben. Zukunft heißt in allen diesen Fällen: das bessere, oder wenigstens das fortgesetzte Leben.

Dabei kann keiner eigentlich daran zweifeln, dass die Zukunft nur eine absolute Gewissheit bereithält, die des eigenen höchstpersönlichen Todes. Aber dieser Kern kann nur zutage treten, wenn die Blütenblätter der Projekteschmiederei von ihm abfallen. "In the long run, we're all dead", rief der Ökonom John Maynard Keynes einmal gereizt aus, als er mit einem dieser Projekteschmiede die Geduld verlor. Diese Einsicht ist schlagend; doch nicht jede Epoche vermag sie auch so zu empfinden.

Die unsrige aber scheint allmählich so weit zu sein. Als ein gutes Zeichen wird man das nicht buchen wollen. Es setzt voraus, dass Stagnation und Isolation zu zentralen Erfahrungen geworden sind: Stagnation herrscht, weil kaum einer mehr ernsthaft damit rechnet, es würde für ihn besser werden, was nicht dem Befund widerspricht, dass Veränderungen auf allen Ebenen sich heute so schnell vollziehen wie noch nie; doch lösen sie eher Angst als freudige Erwartung aus.

Und in Isolation wird es erlebt, weil die einstigen starken Solidarverbände sich auflösen, Kirchen, Klassen, Milieus, selbst die Familie, insofern sie als Ressource fragloser gegenseitiger Unterstützung galt. Da steht kein Trost mehr in der Sichtachse, echter oder falscher, der Blick aufs Ende wird beängstigend frei.

Schwer zu bearbeitender Gegenstand

Auf diese Lage der Dinge, die sich lang angebahnt hat, aber offenbar erst jetzt ihre volle Konsequenz erreicht, reagiert, wie es sich gehört, die zeitgenössische Literatur.

Der Gegenstand ist allerdings nicht ganz leicht zu bearbeiten, viel schwerer als zum Beispiel die Liebe. Zum Gegenstand in engerem Sinn kann der Tod schon deshalb gar nicht werden, weil er die Verneinung aller Gegenständlichkeit bedeutet. In der Schwärze, die er voraussendet, schwächt sich, schon ehe er eintritt, nach und nach Existenz überhaupt und beginnt hinüber ins Nichts zu wehen.

Aus diesem Gradualismus ergibt sich eine einfache Regel für Bücher, die sich der Darstellung des Todes widmen: Sie treffen ihn, wenn sie sich seinem Muster der Sukzession fügen, und er entwischt ihnen, wenn sie ihn zum Zentrum einer gewissermaßen räumlichen Konstruktion machen wollen.

Konstrukteure in diesem Sinn sind Christof Hamann und Jenny Erpenbeck. Hamann (Nur ein Schritt bis zu den Vögeln. Roman, Steidl Verlag, Göttingen) startet, wie man es von Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" her kennt: Aber er ist doch immer über die Gleise gegangen! Simon nämlich, der doch alles hatte, was man sich im Leben wünschen kann, Geld, Erfolg, Einfluss, auch treue Freunde, die jetzt über seinen Tod auf den Eisenbahnschienen rätseln.

Hamanns Buch bietet sich als das unzeitgenössischste dar, indem es den (mutmaßlichen) Suizid nach überkommenem Muster als ein Versagen sei es des Einzelnen, sei es der Gesellschaft deutet, als eine grässliche Option, aber trotzdem als Option - und nicht etwa als den unsinnigen vorauseilenden Gehorsam eines ohnehin sterblichen Wesens, für das der Tod, wenn er kommt, allemal noch zeitig genug kommt.

Jenny Erpenbeck (Aller Tage Abend. Roman. Knaus Verlag, München) entscheidet sich für den Modus des Irrealis, in ihm ist das Buch gedacht und stellenweise auch geschrieben: Was wäre gewesen, wenn dieses Mädchen, Kind jüdischer Eltern in einem osteuropäischen Schtetl, nicht schon wenige Monate nach seiner Geburt wieder im Nichts verschwunden wäre? Dann hätte sie sich vielleicht im Wien des Jahres 1919 aus Liebeskummer umgebracht. Oder wäre 1938 in Stalins Lagern verschwunden. Oder als verdiente DDR-Genossin leider bei einem Treppensturz verunglückt. Oder nach der Wende, hochbetagt und verwirrt, unbemerkt in einem Pflegeheim erloschen.

Doch ist fiktive Literatur ja schon von Haus aus - nun eben, fiktiv, auch ohne dass das ohnehin bloß Vorgestellte sozusagen zum Quadrat erhoben würde. Und dann wäre die Heldin, auch wenn sie wirklich vorher gelebt und alle die Pogrome, Hungersnöte, Säuberungen überlebt haben sollte, inzwischen auf alle Fälle dennoch tot, alle Nebenfiguren desgleichen.

Surfen auf der Welle, während sie bricht

Erpenbeck will das Geisterreich des historischen Romans durch Metageister bereichern. Das geht nicht. Diese beiden Bücher machen denselben Fehler: dass sie mit dem Tod anfangen, wo doch mit ihm alles aufhört; die anderen hier herangezogenen Bücher vermeiden ihn. Statt dass sie versuchen, gegen den Wind zu kreuzen, surfen sie auf der Welle, während sie bricht. Das ist ein Verfahren von ganz unromanhafter Schlichtheit; und es sind dann auch zwei von ihnen keine Romane, sondern - etwas anderes.

Selbst das Buch von Ursula Fricker (Außer sich. Roman. Rotpunktverlag, Zürich), mag man kaum als Roman bezeichnen. Katja und Sebastian, beide knapp vierzig, sind ein glückliches Paar. Eines Tages erleidet Sebastian ohne Vorwarnung eine Hirnblutung, er sinkt ins Koma, und als er wieder zu sich kommt, bleibt ihm nur ein vegetatives Leben ohne Ich-Bewusstsein; er muss 24 Stunden am Tag gepflegt werden. Es geht nicht vor und nicht zurück.

Katja, die ihm trotzdem die Treue halten will, versinkt in Verzweiflung und Erschöpfung. So reift in ihr der Entschluss zum Gnadentod. Von seinem ganzen sprachlichen Duktus her ist dieses Buch unambitioniert; fast will man es gleich am Anfang, weil es das Glück der beiden derart gemeinplätzig ausmalt, beiseitelegen. Seine Wucht gewinnt es dann jedoch in der unbeirrbaren Linearität, mit dem es den Zustand der Hoffnungslosigkeit in seiner Dauer erfasst.

Auch David Wagners Buch (Leben. Rowohlt Verlag, Reinbek) verzichtet auf künstlerische Prätention und macht klar, dass dieses Ich kein anderes als das des Autors ist, der dem Tod von der Schippe springt. Dieses Ich bietet sich merkwürdig dünn dar; es will leben um seines Kindes willen, einer dreijährigen Tochter, die blass bleibt; und auch die anderen Menschen, die Mutter des Kindes, die jetzige Freundin, die Zimmergenossen der endlosen Krankenhausaufenthalte, haben wenig Farbe, existieren nur in Anekdoten.

Aber das schmälert die Kraft des Buchs erstaunlich wenig, gerade so erzählt es von einem Dasein, das sich Tag für Tag ungeschützt in seinen Umschwüngen vollzieht.

Den Ton richtig treffen

"Docu-Fiction" nennt man diese Art, ein Buch zu schreiben, gelegentlich. Das klingt nach etwas Hybridem und Unreinem. Aber das ist es nicht. Es kommt darauf an, einen Ton zu treffen, der seinem Thema standhält. Bei Wagner ergab er sich aus der zufälligen Personalunion von Autor und Patient.

Die Palliativ-Medizinerin Petra Anwar hingegen hat sich als Ergänzung den Schriftsteller John von Düffel gewählt (Geschichten vom Sterben. Piper Verlag, München). Dieser hält sich angenehm und nobel zurück, die Ärztin ist es, die "Ich" sagen darf. So erzählt sie ein rundes Dutzend Geschichten von Krebspatienten im Endstadium, die "austherapiert" sind und bei denen es sich nur noch darum handelt, wie sie ohne allzu große Schmerzen und Angst dem Tod entgegengehen.

Jede dieser Geschichten nimmt ihren eigenen Verlauf, in dem sich letztmals die Persönlichkeit der Sterbenden manifestiert: des türkischen Familienoberhaupts, das von seiner Sippe umringt wird und nicht zu sagen wagt, dass er zum Schluss in seine anatolische Heimat zurückkehren möchte; der zähen Neunzigjährigen, die immer alles allein bewältigen musste und jetzt also auch das Geschwür, das ihr Gesicht zerfrisst.

Das Buch ist ein Dokument des Humanen auch in aussichtsloser Lage, geprägt von einer professionell gebändigten, aber gerade darum starken und konkret helfenden Emotionalität. Vor dem Tod erweist sich alles Nur-Literarische als unzureichend. Darin wurzelt die nicht zuletzt auch literarische Qualität des Buchs.

In allen erwähnten Büchern hat Gott zumindest einen kurzen Auftritt. Alle nehmen ihn zur Hand wie einen uralten Feuerlöscher, wenn es plötzlich brennt - und das Ding funktioniert nicht. Es gibt einen Augenblick der Ratlosigkeit, ehe man zu anderen Mitteln greift.

Den stärksten Ausdruck für diese Erfahrung findet ausgerechnet das schwächste der Bücher, Erpenbecks "Aller Tage Abend": "Schön wäre es, denkt sie, wenn der Zufall regieren würde, und nicht ein Gott." Nur so, scheint es, lässt sich der Tod noch ertragen.

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