Flüchtlinge aus Nordkorea:Todesreise nach Südkorea

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Bis zu einem Jahr brauchen Flüchtlinge aus Nordkorea für die riskante Reise in den Süden. Doch dort erwarten sie oft Desinteresse und Vorurteile - viele Südkoreaner schließen aus dem kriegerischen Auftreten der Führung in Pjöngjang auf den Charakter der Ankömmlinge.

Von Reymer Klüver, Seoul

Die Distanz zwischen dem koreanischen Grenznest Hyesan und der Millionenmetropole Seoul beträgt knapp 440 Kilometer - Luftlinie. Park Kun Ha hat für die Strecke fünf Jahre gebraucht. Denn sein Weg war, um es lapidar auszudrücken, ein bisschen länger und gewundener als die gerade Linie zwischen den beiden Orten. Er führte ihn durch den Dschungel chinesischer Großstädte und in die Regenwälder Südostasiens, er brachte ihn in Nachtasyle, Arbeitslager und ins Gefängnis. Eine moderne Odyssee. Sie machte ihn zum Opfer von Kriminellen und ließ ihn selbst zum Dieb werden. Er schlug sich als Lumpensammler und Bettler durch, als Erntehelfer und Ziegelschlepper. Am Ende aber gelangte er an den Ort seiner Sehnsucht. Nur um zu merken, dass er dort nicht wirklich willkommen ist.

Park Kun Ha stammt aus Nordkorea. Inzwischen lebt er in der Hauptstadt der Südhälfte des geteilten Landes, in Seoul. Einer von mittlerweile 25.000 Flüchtlingen ist er, die unter Lebensgefahr dem von der Außenwelt abgeriegelten kommunistischen Reich im Norden Koreas entkommen sind und eine Zukunft im Süden gesucht haben.

"Todesreise" nennen Flüchtlinge wie Park den riskanten Nord-Süd-Treck. Wie viele in Nordkorea aufbrechen und auf der Strecke bleiben - von nordkoreanischen Behörden abgefangen, in China festgenommen und abgeschoben - weiß keiner so genau. Und nur diejenigen, die durchkommen, kennen wirklich die Gefahren. Park brach im Juni 2000 auf. Erst im Juni 2005 aber traf er in Seoul ein.

Die Flucht zu Fuß über die Grenze nach China sei noch das Einfachste gewesen, berichtet der heute 50 Jahre alte Mann. Er war Zollinspekteur an der Grenze zum großen Nachbarland. Und so fiel es ihm leicht, den Moment abzupassen, in dem er unbeobachtet durch den Grenzfluss Amrok waten konnte. Doch auch in China musste er um jeden Preis unentdeckt bleiben. Denn die chinesischen Behörden schicken Koreaner meist ohne viel Federlesens ins kommunistische Bruderland zurück. Dort aber kommen die Republikflüchtlinge ins Arbeitslager, wenn sie Glück haben. Oder sie werden als Vaterlandsverräter gleich exekutiert.

Bei Tag verstecken, nachts wandern

Park indes schlug sich in China durch. Im Grenzland halfen ihm noch Joseonjok, Chinesen koreanischer Abstammung. Bei Tag schlief er in Verstecken, nachts wanderte er - nur weg von der Grenze. Im Herbst fand er Arbeit bei der Ernte. Er gelangte bis nach Südchina, schuftete jahrelang auf Baustellen für die Universität Yunnan. Schließlich brach er weiter in Richtung Süden auf. In Laos aber wurden ihm alle Ersparnisse gestohlen. Er musste um Almosen bitten und auf der Straße schlafen. In seiner Verzweiflung stahl er eines Nachts ein Fischerboot und ruderte darin über den Mekong nach Thailand. Bettelnd kam er bis Bangkok, wo ihm die südkoreanische Botschaft eine Unterkunft beschaffte und ihn nach fast einem weiteren Jahr des Wartens schließlich nach Seoul ausflog.

Ganz so lange wie bei Park dauert die Flucht indes normalerweise nicht. Zehn Monate bis zu einem Jahr sind die meisten unterwegs. Sie gelangen wie Park über China und die Länder Südostasiens nach Südkorea. Manche schlagen sich auch nach Russland durch oder durch die Wüste Gobi in die Mongolei. Riskant ist die lange Flucht ohnedies immer. Stets müssen die Koreaner Angst haben, verraten zu werden. Besonders für Frauen ist es gefährlich, nur zu oft werden sie Opfer sexueller Übergriffe. Seit 2006 kamen auf diese Weise pro Jahr stets zwischen 2000 und 3000 Nordkoreaner in den Süden. Im vergangenen Jahr aber verschärften die Nordkoreaner ihre Kontrollen entlang der Grenze zu China. 2012 verringerte sich die Zahl der Flüchtlinge auf 1500, die in Südkorea eine neue Heimat suchten.

Suchten, aber eben nicht unbedingt gefunden haben. Was er vorfand, als er endlich am Ziel seiner Träume war, berichtet Park Kun Ha, verstörte ihn zutiefst: Desinteresse und Vorurteile. Und er weiß nicht, was wirklich schlimmer war. "Sie sind völlig gleichgültig", sagt er über seine Landsleute im Süden, "sie führen ihr eigenes Leben. Der Norden ist ihnen ganz und gar egal." Das hatte er nicht erwartet, er hatte gedacht, dass sich die Menschen für einen wie ihn interessieren, der immerhin sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, um in den Süden zu kommen.

Seinen ersten Job im Süden hatte Park, der in Nordkorea Biologie studiert hatte, als Gehilfe eines Hausmeisters in Seoul gefunden. Der habe ihn nach ein paar Tagen verwundert ein Geständnis gemacht: Sein neuer Mitarbeiter sei ja gar nicht so aggressiv, wie er es befürchtet hatte. Viele Südkoreaner schließen aus dem kriegerischen Auftreten der Führung in Pjöngjang auf den Charakter ihrer Landsleute im Norden (deren Dialekt auch noch etwas härter ist als die Aussprache der Koreaner im Süden) - und halten alle Nordkoreaner deshalb für potenzielle Querulanten.

60 Prozent aller Neuankömmlinge verschweigen ihre Herkunft

Der Ruf der Umsiedler ist im Süden nicht allzu gut. Die meisten finden ohnehin nur Jobs als Hilfsarbeiter, weil sie fast alles, was sie im Norden gelernt haben, im Süden vergessen können. Zwölf Prozent sind arbeitslos - bei einer durchschnittlichen Erwerbslosenquote in Südkorea von unter vier Prozent. Jeder Zehnte der Umsiedler, so eine Studie, dürfte zudem schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten sein. Jede neunte Frau unter den Flüchtlingen ist in Südkorea bereits sexuell belästigt oder vergewaltigt worden. Und ein Drittel soll schon einmal als Prostituierte gearbeitet haben. 60 Prozent aller Neuankömmlinge verschweigen lieber gleich ihre Herkunft.

Im koreanischen Fernsehen gibt es eine beliebte Kuppel-Sendung, "SBS Jjak" genannt. Eine Episode vor anderthalb Jahren warf ein bezeichnendes Licht auf das Ansehen nordkoreanischer Umsiedler im Süden des Landes: Eine hübsche junge Frau avancierte damals zur absoluten Favoritin aller teilnehmenden Männer. Unter Tränen gestand sie dann allerdings, dass sie aus ihrer Vergangenheit Entscheidendes ausgelassen habe: Sie stamme aus Nordkorea. Danach blieb von allen Bewerbern, die sie umschwärmt hatten, nur einer übrig: ein mittelloser Bauernsohn.

Auch Park fühlt sich trotz Begrüßungsgeld und nicht gerade kleinlich bemessenen staatlichen Eingliederungshilfen von umgerechnet fast 30 000 Euro noch immer nicht ganz angenommen im Süden. Gewiss, sagt er, "ich darf sagen, was ich will, und kann meine Entscheidungen selbst treffen". Aber Anschluss hat er nicht wirklich gefunden in seiner neuen Heimat. Deshalb hat er bereits vor fünf Jahren zusammen mit anderen Flüchtlingen die NKIS gegründet, den "Solidaritätsverein nordkoreanischer Intellektueller", der Flüchtlingen im Süden Hilfestellung im Alltag geben soll. Zudem lässt die NKIS Dissidenten im Norden diskret Hilfe und Informationsmaterial über das Leben im anderen Teil Koreas zukommen, zum Beispiel auf USB-Sticks in den Norden geschmuggelt. Park Kun Ha selbst hat in Südkorea immerhin privat neues Glück gefunden: Er hat wieder geheiratet. Seine Frau stammt - wie sollte es anders sein - aus dem Norden.

© SZ vom 08.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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