Kinder - der ganz normale Wahnsinn:Räum endlich auf!

Tipps für die Erziehung von Kindern im Kindergarten-Alter

Wenn Kinder nur Eimer und Schaufel hätten, wäre das Aufräumen kein Problem. Doch die meisten können weitaus mehr Spielzeug im Kinderzimmer verteilen.

(Foto: J. Hosse)

Es soll ja Kinder geben, die räumen ihr Zimmer auf. Leider gehören die eigenen nicht dazu. Dafür beherrschen sie die Kunst des Spielzeug-Bergebaus und erreichen dabei ungeahnte Höhen. Bis sich die Eltern an den Gipfelsturm machen.

Von Katja Schnitzler

In der Ferne war ein Lichtschimmer auszumachen, dort musste das Fenster sein. Das Kinderzimmer lag im Dunkeln, aber nicht, weil der Rollladen geschlossen war. Den hatten die Eltern schon lange nicht mehr zugemacht. Sie kamen einfach nicht so weit.

Den Weg zum Fenster versperrten: Ein mehrfach aus- und angebautes Schloss (wahlweise auch Pferdestall), errichtet aus Bausteinen, den großen natürlich. Diese Kostbarkeit durfte nicht angerührt werden, jeder herausgestemmte Stein brach zugleich das Herz der Kinderzimmerbesitzerin. Jeder.

Die Eltern rührten das verstaubte Schloss nach zwei Abrissversuchen nicht mehr an. Wenn Mutter und Vater dem kinderfußbreiten Trampelpfad durchs Spielzeugdickicht folgten, endete dieser abrupt am Bücher-Mittelgebirge, das sich gletschergleich aus dem übervollen Regal schob. Von Abtauen keine Spur, im Kinderzimmer herrschte Eiszeit.

"Bücher kann man nie genug haben", sagte die Verwandt- und Bekanntschaft und sorgte für ständigen Nachschub. Jede Bücherei hätte sich über diese Sammlung gefreut, leider wachte das Kind auch über diesen Schatz und verzichtete weder auf Fühl-, noch auf Klapp- oder gar platzraubende Panorama-Bücher.

Das Bücher-Mittelgebirge ging über in die Puzzle-Hochebene, die sich rings um eine Puppen-Buggy-Erhebung erstreckte, und durch eine Schusser- und Hüpfgummi-Anhäufung unbegehbar geworden war.

Direkt vor der Fensterscheibe türmten sich Stofftiere zu einem Berg auf, alle heiß geliebt, keines durfte weggegeben werden. Wohlmeinende Verwandte vergrößerten diesen Mount Everest der Kuscheltiere auf Rekordhöhe. Ob Tag oder Nacht war, konnte man nur an dem matten Lichtstrahl erkennen, der zwischen Teddybär Nummer acht und Plüschhund Nummer vier durchschimmerte.

Die Eltern hatten einiges versucht, um den Spielzeugbergen Herr zu werden. Doch während in anderen Familien die Mütter und Väter heimlich länger verschmähte Sachen verschwinden ließen, frei nach dem Motto: "Aus dem Sinn, dann aus den Augen und dann weg damit", kamen die Eltern damit bei ihrer Tochter nicht weiter. Sie hatte offenbar einen sechsten Sinn dafür, wenn sich Spielzeug in Luft auflöste - egal wie lange sie es nicht mehr benutzt hatte. Oder ob überhaupt.

War der werbebedruckte Mini-Laster in der Tonne entsorgt, sagte die Kleine während der nächsten Autofahrt: "Schau nur, der Lastwagen sieht genauso aus wie meiner. Den such ich daheim gleich!" So ging das immer, es wurde den Eltern schon unheimlich. Und es endete stets gleich: mit Tränen, schließlich war der Laster unauffindbar, sogar wenn die Tochter ganze Spielzeug-Berge verrückte.

Die Eltern nutzten die Situation, um an die Vernunft ihrer Tochter zu appellieren: "Schau, du findest ja gar nichts mehr in den vielen Sachen. Und Platz zum Spielen hast du auch nicht mehr. Vieles hattest du ewig nicht mehr in der Hand Du solltest erst was aussortieren, bevor es etwas anderes gibt, gell: Alt ergibt Neu!" Ihre Argumente prallten an einer Mauer aus Spielsachen ab.

So konnte es nicht weitergehen, so sollte es auch nicht weitergehen. Ein wenig Licht im Kinderzimmer wäre doch schön, und zwar natürliches, beschlossen die Eltern.

Sie rangen drei Abende und Nächte mit sich, ob sie bereit wären für eine radikale Entsorgungs-Kur - und stark genug für die himmelschreiende Konsequenz. Noch zögerten sie.

Platz, endlich Platz!

Bis die Mutter die Tür zum Kinderzimmer öffnete. Ihre Tochter hatte dahinter einen neuen Höhenrekord aufgestellt, die einzige Grenze war die Zimmerdecke. Und die hatte sie erreicht.

Das Kind hatte alle im Zimmer verfügbaren Mittelgebirge, Hochebenen und Plüschtierberge zu einem einzigen Giganten des Überflusses vereint. Dieser Koloss türmte sich nun vor der Mutter auf. Aber nur kurz. Dann stürzte er um.

Eine Nachbarin brachte an diesem Tag die Tochter vom Kindergarten nach Hause. "Hab ... heute ... keine ... Zeit!", hatte die Mutter ins Telefon gekeucht. Sie klang, als sei sie auf einer Bergtour, einer anstrengenden.

Als die Nachbarin klingelte, öffnete die Mutter. Sie hatte zerzaustes Haar, in denen Staubflocken hingen, und hektisch gerötete Wangen. In der Hand hielt sie eine Schneeschaufel. "Ähem", setzte die Nachbarin an, räusperte sich und fragte: "Ist alles in Ordnung?" "Jetzt schon", seufzte die Mutter zufrieden. Die Tochter ahnte Schlimmes und rannte in ihr Zimmer.

Die Möbel, der Teppich, die Wände - alles war gut zu sehen, obwohl kein Licht brannte: Die Sonne schien ungehindert durchs Fenster (sauber). Der Weg dorthin war passierbar. Keine Spur mehr von Spielzeug-Gipfeln oder Bücher-Gletschern. Die Eiszeit war vorüber.

Das Kind stand stumm.

Dann blickte es die Mutter an, die ihm gefolgt war. "Wo...?", flüsterte es. "Im Keller", sagte die Mutter zufrieden. Dass sie die Hälfte davon bereits im Internet zum Kauf feilbot, verschwieg sie.

Die wichtigsten Bücher standen noch im Bücherregal, die Kugeln und Hüpfbälle waren in einem Säckchen verstaut und vier Lieblingskuscheltiere warteten auf dem Kopfkissen.

Die Tochter streifte durch ihr groß gewordenes Reich. "Ganz schön viel Platz", sagte sie, widerwillig anerkennend. "Jawoll!", sagte die Mutter zufrieden, "und wenn du mit deinen Sachen spielen willst, holst du etwas vom Keller hoch. Und dann räumst du es wieder runter." Ein guter Plan, fand die Mutter. Die Tochter schien einverstanden. Jedenfalls widersprach sie nicht. Vielleicht stand sie noch unter Schock.

Doch offenbar funktionierte es: Drei Tage lang holte sie, brachte wieder weg und genoss die unbekannten Weiten ihres Reiches. Bis zum vierten Tag. Da hörte die Mutter am Nachmittag ein Poltern auf den Treppenstufen. Etwas Schweres wurde nach oben geschleift. Es rauschte und krachte, wie eine Geröll-Lawine.

Die Mutter stürzte ins Kinderzimmer. In der Mitte türmte sich ein zugspitzengroßer Haufen aus Gerümpel: ein Lampenschirm, ein Teddy ohne Arme, eine lange nicht mehr geputzte Puppenküche. Davor stand strahlend die Tochter: "Stell dir vor, diese tollen Sachen haben die Leute einfach an die Straße gestellt! Da hab ich das Allerschönste mitgenommen. Weil meine alten Sachen doch weg sind. Und Alt ergibt Neu. Hast du gesagt."

Ist der Teppichboden des Kinderzimmers unter dem Spielzeug kaum noch zu sehen, schimpfen Eltern: "Räum endlich auf." Weshalb sie so nicht ans Ziel kommen und wie es besser geht, erklärt der Psychologe Markus Schaer.

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