Medizin:Leben mit halbem Gehirn

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Eine Zehnjährige hat seit ihrer Geburt nur eine Gehirnhälfte. Die Fähigkeiten des Mädchens hätten selbst Forscher kaum für möglich gehalten.

Christina Berndt

Als die Ärzte zum ersten Mal in den Kopf des kleinen Mädchens schauten, trauten sie ihren Augen nicht: Unter der Schädeldecke erblickten sie mit ihrem Kernspintomographen nur ein halbes Gehirn. In der rechten Hälfte des Kopfes verbreitete ein dunkler Fleck gähnende Leere - außer Nervenwasser war da nichts. Das dreijährige Mädchen litt manchmal unter leichten Zuckungen, deshalb hatten es die Eltern in die Klinik gebracht, aber sonst war es völlig normal. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass das wichtigste Organ des Mädchens zur Hälfte fehlt.

Die Kernspinaufnahme zeigt ein halbes Gehirn - und sonst nur Nervenwasser. (Foto: Foto: PNAS)

Inzwischen ist die Kleine zehn Jahre alt. Sie geht in Deutschland auf eine normale Schule, fährt Fahrrad und liebt ihre Inline-Skates. Auch sonst tut sie alles, wofür andere Menschen zwei Hirnhälften brauchen.

Witzig und intelligent

Es heißt, sie sei witzig, geistreich und intelligent. Was die Ärzte des Mädchens besonders erstaunt: Das Kind kann fast so viel sehen, als hätte es ein vollständiges Gehirn, obwohl die Region, die normalerweise die Signale des linken Auges verarbeitet, nun einmal komplett fehlt. Üblicherweise gibt es unter der Schädeldecke eine klare Arbeitsteilung: Signale von der linken Seite des Körpers werden von der rechten Hirnhälfte verarbeitet und umgekehrt.

Wie das halbe Gehirn der Zehnjährigen alles alleine schafft, haben sich Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main jetzt genauer angeschaut. Unter dem Schädeldach habe bei dem Kind eine erstaunliche Umorganisation stattgefunden, berichten sie in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA. "Auf diese Weise gelangen Informationen in eine Hirnhälfte, die da gar nicht hingehören", sagt Wolf Singer, der Studienleiter. "Das ist ein sensationeller Befund."

Dass eine so komplexe Umorganisation überhaupt möglich ist, war selbst für die Hirnforscher "eine Überraschung", ergänzt Lars Muckli, ein ehemaliger Mitarbeiter Singers, der inzwischen an der Universität Glasgow forscht. "Wir hätten erwartet, dass die Kleine nur die Hälfte der Welt sieht." Der Fall belege die"erstaunliche Flexibilität des Gehirns".

Welch große Schäden und Verletzungen das Gehirn kompensieren kann, ist von Patienten wohlbekannt, die nach einem Schlaganfall wieder sprechen oder sehen lernen. So perfekt wie bei der Zehnjährigen aber gelingt die Umschulung der grauen Masse nur selten. Das liege wahrscheinlich daran, dass die rechte Hirnhälfte schon sehr früh im Mutterleib aufgehört habe zu wachsen, meint Wolf Singer. Er glaubt, dass dies schon vier Wochen nach der Befruchtung geschah. "Zu so einem frühen Zeitpunkt während der Entwicklung kann sich das Gehirn neu organisieren und so selbst auf massive Störungen reagieren."

Wenn sie es nicht anders gewohnt sind, können Menschen sogar noch mit erheblich weniger Gehirn leben. Vor zwei Jahren wurde der Fall eines Franzosen bekannt, in dessen Kopf nur etwa zehn Prozent der üblichen Hirnmasse schwimmen. Anders als bei dem Mädchen fehlen aber keine ganzen Teile. Der Mann ist verheiratet, hat zwei Kinder und auch einen Beruf: Er ist Beamter in einer Steuerbehörde.

© SZ vom 22.07.2009/beu - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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