Online-Vorlesungen:Achtung, Unis, jetzt kommt das Internet

"Nichts hat größeres Potenzial, mehr Leute aus der Armut zu befreien": Online-Vorlesungen demokratisieren Wissen - jubeln die einen. Doch es gibt auch Kritik an virtuellen Professoren und dem Web als Campus.

Von Petra Steinberger

Was ist schöner? Sich in der Früh um acht mit Hunderten anderen Studenten in einen muffigen Vorlesungssaal zu drücken und eine Vorlesung zu erleben, die so schon gefühlte hunderttausend Mal gehalten wurde - mit alten Witzen, nicht funktionierenden Overhead-Projektoren und einem unglücklichen Professor? Oder gemütlich allein auf der Couch daheim zu sitzen und sich dort die Einführung zum selben Thema auf dem Computer anzusehen, diesmal peppig, witzig und unterhaltsam?

Raus aus den Universitäten, über Ozeane und Wüsten bis in die letzte Hütte - der alte Traum von der universellen Freiheit des Wissens, das selbst in den letzten Winkeln der Erde frei zugänglich gemacht wird, dieser Traum scheint endlich in greifbare Nähe zu rücken. Zumindest, wenn man den neuen Propheten einer digitalen Umwälzung glaubt. Es sind Professoren und Manager, Computergurus und Politiker.

"Nichts hat größeres Potenzial, mehr Leute aus der Armut zu befreien. Nichts hat mehr Potenzial, eine Milliarde Köpfe zu mobilisieren", überschlägt sich der New York Times-Kolumnist Thomas Friedman, der eigentlich immer recht vorne dran ist, wenn es etwas fast Neues zu entdecken gibt. "Ich glaube, dass die Online-Lehre ein großer Baustein in der Lehre der Zukunft sein wird", sagt Bundeskanzlerin Merkel etwas unaufgeregter.

"MOOC" lautet der neue Zauberbegriff

Beiden geht es um dasselbe: die Revolution, die die rasante digitale Entwicklung für Wissenserwerb, für die höhere Bildung bedeutet. Rückt mal zur Seite, ihr alten Universitäten, die sich seit angeblich tausend Jahren nicht verändert haben, jetzt kommt das Internet.

"MOOC" lautet der neue Zauberbegriff, die Abkürzung für massive open online course, ein Onlinekurs also mit einer gewaltigen Zahl von Teilnehmern. Seit etwa einem Jahr schießt die Popularität dieser MOOCs durch die Decke, setzen vor allem amerikanische Universitäten, einzelne Professoren und inzwischen auch immer mehr kommerzielle Anbieter auf sie und preisen sie an, als ob durch sie endlich alle Schmerzen der Welt geheilt werden könnten. Oder zumindest der Schmerz, den die Unwissenheit über sie gebracht hat.

MOOCs funktionieren derzeit meist so: Ein Professor, vorzugsweise ein außerordentlich charismatischer Redner einer außerordentlich angesehenen Universität, nimmt seine Vorlesung auf Video auf, macht sie möglicherweise mit diversen Ton-, Bild- und anderen Elementen noch einmal knackiger und stellt sie einer MOOC-Plattform zur Verfügung. Studenten, aber auch andere Interessierte, können sich dann beispielsweise den schon live extrem populären Kurs "Der griechische Held der Vorzeit" des Harvard-Professors Gregory Nagy von dort holen oder aber "Die schmutzigen kleinen Tricks der Archäologie" der Brown-Professorin Sue Alcock.

Aber MOOCs sind noch mehr als digitale Vorlesungen. Sie sind interaktiv. Studenten sollen an Diskussionsforen teilnehmen, erhalten Hausarbeiten, können Prüfungen ablegen, und zwar überall auf der Welt, wo es Internetzugang gibt. Für manche dieser Onlinekurse haben sich inzwischen Zehn-, gar Hunderttausende Interessierte eingeschrieben. Das Anschauen kostet bisher meist nichts oder nur einen Obolus.

Wer ein Zertifikat will, muss zahlen

Coursera, eine der größten kommerziellen MOOC-Plattformen, die im April 2012 von zwei ehemaligen Stanford-Lehrern gegründet wurde, spricht inzwischen von mehr als 1,5 Millionen eingeschriebenen Studenten.

Wer allerdings ein Zertifikat, also einen anerkannten, vom jeweiligen Institut beglaubigten Abschluss erwerben will, muss zahlen. Aber bei Weitem nicht so viel wie bei einer richtigen, großen, guten amerikanischen Universität. Fast erstaunlich eigentlich, dass ausgerechnet die außerordentlich berühmten, aber auch außerordentlich teuren Elite-Universitäten wie Harvard, M.I.T. oder Stanford eine Vorreiterrolle spielen bei vielen dieser MOOC-Projekte. Haben sie keine Angst, dass ihnen die Studenten in Scharen davonlaufen?

"Ein Top-Campus wird nicht verlieren"

"Im Gegenteil", sagt dazu Marcus Riecke, Geschäftsführer von iversity, der ersten kommerziellen MOOC-Plattform in Deutschland, "sie gewinnen. Ein Top-Campus wird nicht verlieren. Aber denken Sie an diese vielen nicht funktionierenden Vorlesungen in, sagen wir mal, BWL, in so vielen anderen Universitäten." Das alles werde jetzt ein Ende haben, sagt Riecke, bald könnten sich Studenten die immer gleichen Einführungsvorlesungen als spannend gemachte MOOCs auf dem Computer ansehen. Und die Professoren könnten sich dem widmen, was die meisten sowieso viel lieber täten - nämlich hauptsächlich forschen. Und dabei stecke Bildung, einer der wichtigsten Industriebereiche, noch in den digitalen Kinder- schuhen.

Offenes WLAN ist bedroht: Café-Besitzer plagen Abmahnungen

Im Café auf dem Laptop einer Vorlesung lauschen: Sieht so die studentische Zukunft aus?

(Foto: Robert Schlesinger/dpa)

Vielleicht ist Industrie das Wort, auf das man dabei hören sollte. Denn neben der gewünschten, ersehnten, vielleicht irgendwann sogar realen Demokratisierung von Hochschulbildung wird diese neue Bildungsrevolution auch von konkreten kommerziellen Interessen getrieben. Universitäten und Private Ventures haben inzwischen Hunderte Millionen Dollar in die Entwicklung von MOOCs gesteckt - obwohl noch nicht klar ist, wann und wie sie profitabel werden könnten. Kritiker munkeln schon von einer neuen Technologie-Blase.

Dennoch: "Bildung bietet die Möglichkeit, das Leben zu verbessern", sagt Riecke. Dafür, glaubt er, sind viele Menschen bereit, ziemlich viel Geld auszugeben. Und wenn das Geld oder die Begabung des Kindes nicht reicht für eine Elite-Universität, warum nicht das Zweitbeste nehmen, die MOOCs? "Ich würde mir gut überlegen, ob ich meinen Sohn noch an eine kleine, unbekannte Universität schicken würde", sagt Riecke.

In einer Studie des britischen Institute for Public Policy Research zur digitalen Universität mit dem Titel "Eine Lawine ist im Kommen" heißt es: "Wenn es eine Gewissheit gibt für den, der einer Lawine im Weg steht, dann den: Stehenbleiben ist keine Lösung."

LMU bietet eigene Online-Kurse

Wie es wirklich weitergeht mit den MOOCs, kann keiner so genau sagen, aber weil man eben lieber nicht von der Lawine überrollt werden will, bieten nun immer mehr Bildungseinrichtungen MOOCs an. Die Münchner Ludwig-Maximilians-Universität wird von diesem Juli an eigene Onlinekurse auf Coursera anbieten, beispielsweise "Einführung in die mathematische Philosophie" (auf Englisch), ebenso die Technische Universität, die Universität Leiden oder das MoMA.

Diese Entwicklung findet Peter Burgard, Professor für Deutsch in Harvard, viel zu schnell und viel zu undurchdacht. Rechtzeitig zum ersten Sonnentag dieses Sommers ist er in München angekommen, wo er wie jedes Jahr für zwei Monate die Harvard Summer School leitet. Sie funktioniert über die alte Art des Unterrichtens - von Angesicht zu Angesicht. Denn was viele für verstaubt und überholt halten, ist für Burgard die Essenz guter Bildung: der Kontakt zwischen Student und Professor.

"MOOCs sind nichts anderes als TV-Shows." Und nur sieben Prozent aller Eingeschriebenen machten die Kurse überhaupt zu Ende. Vor ein paar Tagen hat er einen neuen Namen für MOOCs erfunden: MOATs, massive online animated textbooks, also gewaltige Online-Lehrbücher mit bewegten Bildern.

Moat bedeutet im Englischen noch etwas anderes: Burggraben. Und genau das ist es, was Burgard hinter der MOOC-Begeisterung gerade der großen Elite-Universitäten vermutet. "Mit diesem System ziehen sie einen Graben um ihre Burg, die Elite sitzt oben, und unten sitzen alle anderen, die niemals Zugang in die Höhen erhalten werden."

Anstatt also die Bildungsmöglichkeiten für immer mehr Menschen zu eröffnen, führten MOOCs irgendwann dazu, dass die vielen Abstufungen in der Qualität der Lehre, die es heute gebe, verschwinden würden - es blieben die wenigen da oben. "Die Elite-Universitäten produzieren MOOCs. Kleinere Unis kaufen sie in Lizenz. Somit sparen sie an der Fakultät, weil MOOCs natürlich viel billiger sind. Und wenn die Fakultät schrumpft, schrumpft die Studentenzahl und die Zahl der Doktoranden, ganze Fächer verschwinden irgendwann."

"Was soll das für eine Bildung sein?"

Was Riecke als notwendig für eine Verbesserung der Bildungssituation ansieht, ist für Burgard eine Katastrophe: "Was soll das für eine Bildung sein, wenn sämtliche Philosophie-Studenten im Land die Vorlesung eines einzigen Star-Professors - und damit seine Interpretation - über Gerechtigkeit hören?"

Burgard ist kein Technikfeind, er sieht Bereicherung und neue Möglichkeiten in den digitalen Medien. Aber der Bruch zwischen Lehrer und Schüler beunruhigt ihn - und er ist nicht allein. Inzwischen regt sich unter den amerikanischen Professoren zunehmend Widerstand.

Die Fakultät des renommierten Amherst College entschied sich gegen die Teilnahme an einem MOOC-Programm. Und vor zwei Wochen überreichten 58 Harvard-Professoren dem Dekan einen Brief, in dem sie um die Einrichtung eines Ethik-Gremiums baten, das sich mit den Konsequenzen der MOOC-Welle befassen sollte.

"Wir können den Zug nicht aufhalten, aber wir können ihn verlangsamen", sagt Burgard. Denn er glaubt fest daran, dass eine gute Vorlesung darin besteht, auf die Studenten zu reagieren, mit ihnen zu diskutieren, auch sein eigenes Denken zu hinterfragen. Allein, daheim gemütlich auf der Couch, gibt es das für ihn eben nicht.

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