Vierfachmord von Annecy:Zugriff nach zehn Monaten

Bis vor kurzem sah es so aus, als würde das Blutbad von Annecy nie aufgeklärt werden, Franzosen und Briten schoben sich gegenseitig die Schuld an den schleppenden Ermittlungen zu. Jetzt ist der Bruder des getöteten Familienvaters festgenommen worden. Ist das Mysterium zehn Monate nach der Tat gelöst?

Von Stefan Ulrich, Paris

Als am Nachmittag des 5. September 2012 auf einem Waldparkplatz in der Nähe des Sees von Annecy eine britische Urlauber-Familie und ein französischer Radfahrer mit zwei Dutzend Schüssen ermordet wurden, deutete alles auf eine rasche Aufklärung hin. Der Täter des Blutbads hatte viele Spuren hinterlassen. Zudem gab es zwei Zeugen: die beiden kleinen Töchter der Familie, die das Massaker überlebt hatten. Hundert französische und britische Polizisten machten sich an die Aufklärung. Doch dann zogen sich die Ermittlungen immer länger hin. Eric Maillaud, der Staatsanwalt von Annecy, mutmaßte unlängst sogar, der Fall werde womöglich niemals gelöst.

Jetzt plötzlich scheint aber doch Bewegung in die Ermittlungen zu kommen. Die britische Polizei teilte am Montag mit, sie habe in der Grafschaft Surrey in der Nähe Londons am Morgen einen 54 Jahre alten Mann unter dem Verdacht einer "Beteiligung an einem Mordkomplott" festgenommen. Staatsanwalt Maillaud sagte später, bei dem Mann handle es sich um Zaid al-Hilli. Es ist der Bruder des ermordeten Familienvaters.

"Wir fanden, dass es genügend Belastungselemente gibt, um ihn im Polizeigewahrsam zu vernehmen", erklärte Maillaud. "Wir müssen ihn zu seinem Terminkalender, seiner Beziehung zu seinem Bruder und zum Familienerbe befragen." Die Ermittler halten es für am wahrscheinlichsten, dass das Verbrechen aus familiären Gründen begangen wurde. Zaid al-Hilli hatte sich vergangene Woche geweigert, einer Vorladung der französischen Fahnder zu folgen. Er soll noch am Montag von britischen und französischen Beamten vernommen worden sein. Außerdem wurden sein Wohnsitz und ein Golfplatz durchsucht, dessen Geschäftsführer er war.

Die französischen Fahnder hatten schon kurz nach dem Blutbad vermutet, das Motiv könnte eine Erbstreitigkeit sein. Die Polizei hatte an jenem Septembernachmittag auf dem Waldparkplatz in der französischen Ferienregion Hochsavoyen drei Tote in einem BMW mit britischem Kennzeichen gefunden. Es handelte sich um den 50 Jahre alten Briten irakischer Herkunft Saad al-Hilli, um dessen Ehefrau und dessen Schwiegermutter. Sie waren mit je zwei Kopfschüssen ermordet worden.

Überlebende Tochter versteckte sich acht Stunden lang

Außerhalb des Fahrzeugs entdeckten die Ermittler einen ebenfalls erschossenen französischen Radfahrer sowie die sieben Jahre alte Zainab. Die Tochter Saad al-Hillis war schwer verletzt. Erst acht Stunden nach dem Verbrechen fanden die Beamten dann die unverletzte, vier Jahre alte Zeena. Sie hatte sich in dem Auto zwischen den Beinen ihrer toten Mutter versteckt. Als eine Beamtin sie in die Arme nahm, lächelte das kleine Mädchen und fragte, wo ihre Eltern seien.

Die Ermittlungen ergaben, dass der Vater der beiden Brüder al-Hilli, ein wohlhabender irakischer Industrieller, in den Siebzigerjahren vor dem Saddam-Hussein-Regime nach Großbritannien geflohen war. Als er vor zwei Jahren starb, hinterließ er ein Millionenvermögen. Dazu gehörten ein schmuckes Fachwerkhaus in der Grafschaft Surrey sowie ein Konto bei einer Genfer Bank mit einem Guthaben von fast einer Million Euro. Da der Vater kein klares Testament hinterließ, kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Zaid und Saad al-Hilli, wie Staatsanwalt Maillaud am Montag bestätigte. Britische Medien berichteten, die beiden hätten vor dem Blutbad nur noch über Anwälte miteinander verhandelt.

Satelliten-Ingenieur als Zufallsopfer

Die Ermittler folgten jedoch auch anderen Spuren. Da war zum Beispiel der getötete französische Radfahrer. Sollte die Tat ihm gegolten haben? Die Staatsanwaltschaft schloss das bald aus. Sie vermutet, dass der Radfahrer zufällig an dem Parkplatz vorbeikam und als Zeuge des Verbrechens getötet wurde. Dann war da der Beruf Saad al-Hillis. Er hatte als Ingenieur für eine Satelliten-Firma gearbeitet. Hatten Geheimdienste ihre Hand im Spiel? Oder lagen die Wurzeln des Verbrechens im Irak?

Die Beamten prüften auch, ob die al-Hillis Opfer eines Raubüberfalls oder eines wahnsinnigen Serienmörders geworden sein könnten. Sie stellten Rechtshilfeersuchen an etliche Staaten, darunter an die USA und den Irak, baten im britischen und französischen Fernsehen mögliche Zeugen um Aussage und nahmen die Vergangenheit der Familie al-Hilli unter die Lupe.

Zaid al-Hilli hatte sich schon kurz nach der Tat bei der britischen Polizei gemeldet und jede Beteiligung abgestritten. Er wurde von den Briten bislang nicht als Verdächtiger, sonder als Zeuge geführt. Der französische Staatsanwalt Maillaud hatte dagegen schon vor einiger Zeit angeregt, Zaid al-Hilli in Polizeigewahrsam zu nehmen.

Nationale Sticheleien

Im Laufe der Ermittlungen kam es auch zu britisch-französischen Sticheleien, insbesondere in der Presse. Auf französischer Seite wurde kritisiert, die Briten befragten die traumatisierten Mädchen Zainab und Zeena nicht richtig. Britische Medien wiederum warfen den Franzosen vor, diese hätten bei der Spurensicherung geschlampt und fixierten sich zu sehr auf die Erbschaftsstreit-Theorie.

Staatsanwalt Maillaud meinte in diesem Jahr fast entschuldigend: "Die Untersuchung geht voran, aber extrem langsam." Die Agentur Agence France Presse bezeichnete das Blutbad als "französisch-britisches Geheimnis des Jahres 2012". Noch ist unklar, ob das Mysterium jetzt, zehn Monate später, gelüftet wird.

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