NSU-Tat vor Gericht:Mörder in Radlerhosen

NSU Prozess

Ein Plakat mit der Aufschrift "In Erinnerung an - Enver Şimşek - 09.09.2000 - Ermordet durch den NSU" klebt zwischen Absperrgittern vor dem Oberlandesgericht in München.  

(Foto: dpa)

13 Jahre sind vergangen, seit die NSU-Terroristen den Blumenhändler Enver Şimşek mit acht Schüssen ermordeten. Zeugen beobachteten damals den Anschlag in Nürnberg und berichteten von zwei Männern mit "komischem Benehmen" - doch die Ermittler zogen falsche Schlüsse.

Von Annette Ramelsberger

Sie wurde in der Nacht geweckt, mitten aus dem Schlaf gerissen. Ihr Vater sei krank, hieß es, und sie müsse sofort zu ihm ins Krankenhaus. Semiya Şimşek war 14 und sie war allein. Ihre Mutter saß schon bei der Polizei, sie wurde dort vernommen, immer wieder. Und das Mädchen stand auf den leeren Krankenhausgängen, wartete und betete: "Bitte, bitte mach, dass es nichts Schlimmes ist. Bitte, bitte."

Als man das Kind zu ihrem Vater ließ, lag er da, eingeschnürt von Schläuchen und Drähten, auf der Intensivstation. Von der einen Seite sah er aus, als ob er schliefe. Doch dann ging sie herum. Sie sah das Auge, das ausgelaufen war. Sie begann zu schreien, ihr wurde schlecht. Sie wusste: Es war etwas sehr Schlimmes geschehen. Nach zwei Tagen stellten die Ärzte die Maschinen ab, die ihren Vater in dem Zustand zwischen Leben und Sterben hielten. Da war er schon klinisch tot. Acht Schüsse hatten ihn getroffen, aus großer Nähe, und selbst dann noch, als er schon auf dem Boden lag. Ihr Vater wurde 38 Jahre alt.

Der Mord an Enver Şimşek war der erste Mord in der langen Reihe der NSU-Taten. Die Täter kamen am 9. September 2000 um die Mittagszeit, sie hielten an der stark befahrenen Liegnitzerstraße am südöstlichen Stadtrand von Nürnberg. Sie kamen vermutlich mir Rädern vom Radweg und sie bogen von dort in die große Parkbucht ein, auf der Enver Şimşek seinen Blumenstand hatte. Ein Stand mit einem großen orange-gelb-blauen Schirm, den man schon von weitem sah, und mit bunten Sträußen in Blumenkübeln. Sein weißer Sprinter stand direkt daneben, groß konnte man darauf "Blumen Şimşek" lesen. Auf der offenen Klappe des Handschuhfachs hatte der Blumenhändler griffbereit einen Beutel mit Kleingeld liegen - damit er der Kundschaft herausgeben konnte. Doch die Männer, die an seinen Wagen herantraten, waren keine Kundschaft.

Man sieht das Kleingeld, die Blumensträuße, den bunten Sonnenschirm im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts München. Hier im NSU-Prozess wird in dieser Woche der Mord an Enver Şimşek verhandelt. Polizisten haben die Fotos aufgenommen, sie werden nun an die Wände projiziert. Fröhlich sieht dieser Blumenstand aus, sonnig. Und dann sieht man das Blut.

Eine Blutlache. In ihr liegt eine Schachtel Zigaretten. Ein Handy. Und Blumen. Das Letzte, was Şimşek sah in seinem Leben, waren gelbe Gerbera und Lilien.

Die Zeugen

Im selben Augenblick fuhr Günther Burger an dem Lieferwagen vorbei. Burger ist pensionierter Ingenieur und als er an jenem Samstag im September auf der Liegnitzer Straße fuhr, hatte er die Fenster heruntergekurbelt. Es war warm, er und sein Sohn hatten alte Möbel auf den Recyclinghof gebracht. Jetzt waren sie auf dem Rückweg. Und gerade, als sie an dem Blumenstand vorbeikamen, hörten sie laute, metallische Geräusche. "Harte Schläge", sagt Burger. Sie sahen unwillkürlich hinüber und erblickten zwei Männer in schwarzen Radlerhosen, die aus dem Lieferwagen kamen und schnellen Schrittes davoneilten. Fahrräder sahen sie nicht. Und Burger sagte noch zu seinem Sohn: "Das war jetzt aber ein komisches Benehmen."

"Der Vorgang war für mich absolut ungewöhnlich", sagt er nun vor Gericht. "Aber es war keine Aktion erkennbar." Drinnen im Wagen lag Enver Şimşek und röchelte. Später hat Burger in der Zeitung gelesen, dass ein Blumenhändler erschossen worden war. Er hat sich sofort gemeldet und wurde befragt. Und da erinnerte er sich an große Männer, mindestens 1,80. Er gab auch an, dass sie kurze Haare hatten und braun gebrannt waren und dass einer mit seiner rechten Hand eine Bewegung ins Fahrzeuginnere machte. Dort sei eine weitere schwarz gekleidete Person gewesen.

Heute erinnert sich der Zeuge natürlich nicht mehr so genau. "Es sind jetzt 13 Jahre dazwischen", entschuldigt er sich. Aber eines weiß er damals wie heute: Es war kein normales Verhalten, das er da beobachtet hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben Burger und sein Sohn den ersten Mord des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) beobachtet. Sie gehören damit zu den wenigen, die die mutmaßlichen Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf frischer Tat gesehen haben. Später wurden Burger auch die Bilder vorgelegt, die Überwachungskameras von dem Mann gemacht haben, der vermutlich die Nagelbombe in der Kölner Keupstraße gelegt hatte. Ein großer Mann, sehr kurze Haare, kantiges Kinn. Doch Burger hat die beiden Personen nicht zusammengebracht - nur die Größe könnte stimmen, sagt er heute.

Kuchen für die Ermittler

Die Nürnberger Polizei schloss damals schon zwei Tage nach dem Mord einen politischen Hintergrund aus. Einen Raubmord aber nicht - dabei wurden fast 7000 Mark bei Şimşek gefunden und das offene Wechselgeld im Handschuhfach. Mafiagerüchte wurden sofort gestreut.

Semiya Şimşek hat in ihrem Buch "Schmerzliche Heimat" beschrieben, wie es dann weiterging für ihre Familie. Wie die Polizei ihre Mutter immer und immer wieder befragte, ob der Vater Drogen transportierte, ob er Feinde oder eine andere Frau hatte, ob er mit der Mafia im Bunde war. Ihre Mutter wusste nichts von Feinden, von Drogen, von anderen Frauen. Aber sie buk den Ermittlern immer einen Kuchen, wenn sie kamen. Das gehört sich so in ihrer Familie, wenn Gäste kommen. Irgendwann kamen die Beamten dann und erklärten der Witwe, ihr Mann habe eine zweite Familie gehabt, eine deutsche Frau, blond, zwei Kinder. Sie zeigten ihr sogar Fotos von dieser Frau. Man wollte die Witwe erschüttern, ihre Loyalität brechen, hinter der man Täterwissen vermutete. Die Witwe sagte nur, wenn ihr Mann Kinder habe mit einer anderen, dann seien das auch ihre Kinder, dann sollten sie in ihr Haus ziehen.

Die Beamten kamen wieder. Einmal sagten sie ihr, es stehe nun fest, dass er Drogen transportiert hatte. Und die Witwe verzweifelte. So etwas, gegen ihren Glauben, obwohl sie doch gemeinsam in Mekka gewesen waren. Da hatten sie sie so weit und sie zerknüllte unter Tränen das Foto von ihm. Die Mutter und der Vater waren seit ihrem 17. Lebensjahr zusammen, sie wollten zusammen alt werden.

Später, so schreibt Semiya Şimşek, habe ein Beamter der Mutter gesagt, sie solle ihren Mann genauso in Erinnerung behalten, wie sie ihn kannte. Ihnen sei es nur darum gegangen, die Möglichkeiten abzuklopfen, sie zu verunsichern, etwas herauszufinden. Ihre Mutter habe dieses späte Eingeständnis als faire Geste empfunden. Die Witwe war am Mittwoch im Gericht. Sie hat aufmerksam zugehört. Und dann ist sie zu einem Zeugen gegangen und hat sich bedankt. Es war der Rettungssanitäter, der damals Blumen kaufen wollte, den Verkäufer nicht sah und zweimal die Polizei anrief, dass da doch was nicht stimmen könnte. Er hat dann noch versucht, ihren Mann zu retten.

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