Tabuthema Sexualität:Bundesländer verweigern Umfrage in Schulen

Bei einem Projekt sollen Ursachen und Folgen sexuellen Kindes- und Jugendmissbrauchs erforscht werden.Doch vier Bundesländer verweigern eine Schulumfrage. Eins davon ist Bayern, unter anderem mit der Begründung: Übergriffe gebe es in Bayern nicht in diesem Maße.

Von Anja Perkuhn

Gegen etwas anzugehen, das man nicht versteht, ist eine beinahe aussichtslose Mission. Das Bundesfamilienministerium hat deshalb ein Projekt in Auftrag gegeben, das Ursachen und Folgen sexuellen Kindes- und Jugendmissbrauchs erforschen soll. Ein wichtiger Teil der Forschung läuft aber gerade ins Leere: Einige Bundesländer wollen eine Schülerbefragung nicht zulassen, die nach Ansicht der Forscher essenziell ist für die gesamte Studie. Eins davon ist Bayern, unter anderem mit der Begründung: Übergriffe gebe es in Bayern nicht in diesem Maße.

Diese Aussage habe der Staatssekretär des bayerischen Kultusministeriums, Bernd Sibler, ihm gegenüber getroffen, beklagt der Leiter des Forschungsprojektes "Mikado", Michael Osterheider. Auch andere Mitarbeiter hätten sich kritisch geäußert: Die Forschung sei "übertrieben", habe etwa eine Ministeriumsmitarbeiterin erklärt. Im "Schutzraum Schule" wolle man nicht über Sexualität sprechen, gab ihm eine Ministerialrätin zu verstehen.

Ein Missverständnis, heißt es vom bayerischen Kultusministerium. Das Thema Sexualität finde sich schon in den Lehrplänen der Grundschule und werde kontinuierlich in allen Jahrgangsstufen thematisiert. Als offiziellen Grund für die Ablehnung nennt es die "sehr großen pädagogischen Bedenken", da der Fragebogen unter anderem umfassende und detailliert dargestellte Fragen zum Sexualleben der Kinder und Ausprägungen sexueller Gewalterfahrungen beinhaltet. Um effektive Prävention zu betreiben, müsse man aber zunächst Umfang und Art des Problems genau kennen, sagt Osterheider. Um möglichst repräsentative Zahlen zu erhalten, "müssen detailliert diverse sexuell grenzverletzende Szenarien abgefragt werden."

Das projektfinanzierende Bundesfamilienministerium kommentiert bündig: "Jedes Bundesland trifft selber die Entscheidung über die Mitwirkung." Es hat keine andere Einflussmöglichkeit, als an die Länder zu appellieren. Das Ministerium hat Anfang 2013 beschlossen, beim Thema sexualisierte Gewalt auch einen Schwerpunkt auf die Forschung zu legen. Es reagierte damit auf die Empfehlungen des Runden Tisches "sexueller Kindesmissbrauch". In diesem Gremium ist auch die Kultusministerkonferenz vertreten - nur auf Arbeitsebene, wie das bayerische Kultusministerium betont. In den großen Runden, in denen auch Minister Ludwig Spaenle und Staatssekretär Sibler anwesend waren, seien keine Beschlüsse gefasst worden. Außerdem sei der Vorschlag einiger Länder, die Umfrage in Form von qualitativen Interviews durchzuführen, von der Universität Regensburg nicht aufgegriffen worden.

Vom Unabhängigen Beauftragten für sexuellen Missbrauch, Johannes-Wilhelm Rörig, heißt es zu dem Thema: Schülerbefragungen seien ein wichtiges Element der Dunkelfeldforschung, um Angaben über das Ausmaß sexuellen Missbrauchs zu erhalten. An sie seien aber qualitativ hohe Anforderungen zu stellen. "Damit Kinder und Jugendliche in der Schule kompetente und vertrauensvolle Ansprechpersonen finden, sollte sich jede Schule mit dem Thema sexuelle Gewalt auseinandersetzen."

Erstmals ist auch das Internet ein Thema

Die Umfrage, um die es geht, ist eine freiwillige Schülerbefragung. Sie soll erfassen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen Mädchen und Jungen von sexuellem Missbrauch in Deutschland betroffen sind. Erstmalig sollen dabei auch sexuelle Grenzverletzungen im Internet erfasst werden. Es werden dazu Schüler und Schülerinnen aus achten und neunten Klassen unter psychologischer Aufsicht befragt, nicht persönlich, sondern über ein Netbook. Eine Testbefragung gab es bereits 2012 in Hamburg, mehr als 600 Schüler aus Gymnasien, Hauptschulen und Realschulen nahmen teil. In Nordrhein-Westfalen gibt es auch schon erste Befragungen. "In Hamburg haben wir die Pilotstudie durchgeführt und Erfahrungen gesammelt. Kein Kind wurde traumatisiert, also haben wir beschlossen, dass man die Studie machen kann", sagt Osterheider.

Einige Schulen in Bayern hatten auch durchaus Interesse: Zehn der 24 Schulen, die auf die Anfrage reagiert haben, wollten teilnehmen. Doch dann kam die Mitteilung des Kultusministeriums, das in solchen Angelegenheiten das letzte Wort hat. "In Bayern über Sexualität zu sprechen geht nicht, das können Sie ja in anderen Bundesländern machen", habe die Ministerialrätin ergänzt, sagt Osterheider.

Nordrhein-Westfalen muss herhalten

Sachsen, Baden-Württemberg und Thüringen wollen ihre öffentlichen Schulen ebenfalls nicht an der Studie teilnehmen lassen. Da es bundesweite Ergebnisse nicht geben wird, werden die Daten aus Nordrhein-Westfalen als Grundlage für die Mikado-Untersuchungen verwendet werden müssen. Osterheider bezweifelt aber, dass man auf die anderen Bundesländer direkt rückschließen kann: "Die Wahrnehmung des Problems ist natürlich jeweils anders, die Empfehlungen wären auch jeweils anders ausgefallen."

Die Ergebnisse der drei Teilstudien von Mikado sollen bei der Früherkennung und frühen Behandlung von Opfern helfen und bestehende pädagogische Schutzmaßnahmen verbessern, außerdem Empfehlungen für spezifische Präventionsmaßnahmen geben. Erste Daten aus allgemeinen Befragungen des Projektes lassen bereits erkennen, wie notwendig das wäre: Anders als angenommen stagniert die Zahl der Fälle von sexuellem Missbrauch bei Kindern nicht, insbesondere die Zahl von sexuellen Grenzüberschreitungen im Internet hat zugenommen.

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