Überwachung durch US-Geheimdienste:Unterirdisch

Die US-Spionage in Deutschland schneidet die Wurzeln der Grundrechte ab. Das ist staatsgefährdend. Und was macht Innenminister Friedrich, der ja auch Verfassungsminister sein soll? Mit seinem Gerede von einem Supergrundrecht Sicherheit versucht der CSU-Mann, die Unterhöhlung des Bodens des Grundgesetzes sogar noch zu rechtfertigen.

Ein Essay von Heribert Prantl

Es gibt Wörter, die für die gute Geschichte eines Landes stehen. In Deutschland ist das "Wirtschaftswunder" so ein Wort und auch die "Wiedervereinigung". Willy Brandts kluge Parole "Mehr Demokratie wagen" gehört dazu und ganz gewiss das schöne Bild vom "Boden des Grundgesetzes". Dieser Boden des Grundgesetzes ist die Heimat des deutschen Rechtsstaats und der deutschen Demokratie; auf ihm gründet die Stabilität der Bundesrepublik Deutschland.

Vom Beginn der Bundesrepublik an waren alle politischen Kräfte bestrebt, auf dem Boden des Grundgesetzes zu agieren. Jede Partei behauptete das von sich selbst, bisweilen sprach die eine das der anderen ab. Der Boden des Grundgesetzes wurde so zum Ort, auf dem die großen politischen Streitigkeiten ausgetragen wurden. Ob bei der Anti-Terror-Gesetzgebung oder bei den Milliardenbürgschaften für Banken und Euro - die große Frage lautete und lautet: Steht all das noch auf dem Boden des Grundgesetzes?

Auf dem Boden des Grundgesetzes wurde der deutsche Rechts- und Sozialstaat errichtet; auf diesem Boden stehen die Parlamente; auf diesem Boden arbeiten die Verwaltungsbehörden; auf diesem Boden urteilt das Bundesverfassungsgericht. Auf dem Boden des Grundgesetzes wurzelt und wächst der schönste Patriotismus der deutschen Geschichte - der Verfassungspatriotismus, also der Stolz auf die Grundrechte. Auf dem Boden des Grundgesetzes wurzeln und wachsen auch das Selbstbewusstsein und die Selbstsicherheit der deutschen Bürgerinnen und Bürger.

Die unterirdische Überheblichkeit des Sicherheitsapparates

Dieses Selbstbewusstsein und diese Selbstsicherheit geraten ins Wanken, seitdem bekannt wird, dass unter dem Boden des Grundgesetzes US-Geheimdienste arbeiten, die sich um die deutschen Grundrechte nicht scheren; die das Fernmeldegeheimnis so wenig achten wie den Schutz der Privat- und Intimsphäre der Bundesbürger; die das Recht der Menschen auf informationelle Selbstbestimmung nicht respektieren; die das Computer-Grundrecht, also das vom Verfassungsgericht geschaffene Recht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, ja den gesamten Datenschutz ignorieren, den Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht in Jahrzehnten geschaffen haben.

All diese Rechte sind auf dem Boden des Grundgesetzes gewachsen; dieser Boden aber wird von NSA & Co. unterminiert und unterhöhlt, die Wurzeln dieser Grundrechte werden abgeschnitten. NSA & Co. tun dies im Namen der Sicherheit der USA und ihrer Truppen, sie tun dies aus Gewohnheit und in dem Gefühl, dass es ja nicht die Grundrechte der US-Bürger sind, die malträtiert werden. Die Verwanzung von Botschaften und Büros der Europäischen Union durch den US-Geheimdienst zeigt die unterirdische Überheblichkeit des Sicherheitsapparats.

Was sind die Folgen solcher Untergrabungen? Im Ruhrgebiet kann man das ganz gut studieren: Dort, wo einst Stollen gegraben wurden, tun sich heute gewaltige Löcher auf, in denen manchmal ganze Häuser verschwinden; das gesamte Bodenniveau sackt ab; und in den Stollen und Streben von einst lagern Gifte, die das Grundwasser verseuchen können. Solche Verseuchung droht den Grundrechten.

Widerspruch zum Grundgesetz

Das Spionagenetz, das die Amerikaner einst in ihrer deutschen Besatzungszone errichtet haben, existiert immer noch, jetzt in ganz Deutschland. Die NSA baut gerade in Wiesbaden ein neues Spionagezentrum. Bis zu den Notstandsgesetzen von 1968 beruhte das US-Netz in Deutschland auf den verbrieften Rechten der Alliierten, widersprach aber dem Grundgesetz; der Widerspruch wurde dadurch gelöst, dass kein Politiker je von den US-Lausch- und Kontrollrechten in Deutschland sprach. Im Zuge der Notstandsgesetzgebung von 1968 vereinbarte man dann, dass die deutschen Geheimdienste nun bei der Überwachung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs als Dienstleister der ausländischen Partner-Nachrichtendienste agieren und ihnen die gewünschten Daten zur Verfügung stellen.

Das alles hat nicht Edward Snowden herausgefunden, sondern der Freiburger Historiker Josef Foschepoth, der über die Post- und Fernmeldeüberwachung in der alten Bundesrepublik geforscht und 2012 ein aufsehenerregendes Buch geschrieben hat: "Überwachtes Deutschland". Edward Snowden hat freilich aufgedeckt, dass die Überwacherei exzessiv weitergegangen ist und weitergeht, auch nach der Wiedervereinigung und dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag, der Deutschland angeblich die volle Souveränität gegeben hat.

Die Missachtung des deutschen Grundrechts hat einen beschwichtigenden Namen: "Strategische Kontrolle" nennt das der US-Geheimdienst. Das ist nicht nur eine Kontrolle bestimmter Telefonate, das ist nicht nur ein Zugriff auf bestimmte Internet-Daten, sondern die Kontrolle des gesamten Telefon- und Internetverkehrs. "Strategische Kontrolle" ist grob verharmlosend, Schleppnetzüberwachung sagt man besser. Sie ist der GAU für das Allgemeine Persönlichkeitsrecht - die Größte Anzunehmende Überwachung. Es existiert in Deutschland eine grundrechtsverachtende Parallelwelt, eine Unterwelt.

Vom Wesensgehalt der Grundrechte ist kaum etwas übrig

Das Grundgesetz sagt, "in keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden". Zum Wesen der US-Spionage gehört aber ersichtlich, vom Wesen der genannten Grundrechte kaum etwas übrig zu lassen.

Tempora Prism Überwachung NSA

Das Spionagenetz der National Security Agency (NSA): Für die Großansicht klicken Sie bitte auf die Grafik.

(Foto: SZ-Grafik: Ilona Burgarth, Foto: Reuters)

Der Boden des Grundgesetzes verliert seine Stabilität. Die Statik des deutschen Rechtsstaats, der auf diesem Boden errichtet wurde, wankt. Die Tektonik der Verfassung bricht. Die Sicherheit der Menschen im Recht leidet, die Geborgenheit im Rechtsstaat geht verloren. Die umfassende, generelle und flächendeckende US-Überwachung der Bundesbürger ist nicht einfach nur ein Angriff auf die deutsche Souveränität. Sie ist ein umfassender Angriff auf die Grundrechte der deutschen Bürger.

Gewiss: Auch die deutschen Geheimdienste spähen Daten aus, auch von Bundesbürgern, auch sie greifen auf das Internet zu - aber sie tun es auf der Basis von Recht und Gesetz, gebunden an die Grundrechte, kontrolliert vom Bundesverfassungsgericht. Dieses Recht und dieses Gesetz hat die G-10-Kommission geschaffen, welche die Eingriffe der deutschen Geheimdienste in das Fernmeldegeheimnis nach Artikel 10 Grundgesetz genehmigen und kontrollieren soll.

Innenminister Friedrich - ein Ministrant der US-Sicherheitspolitik

Diese Kontrolle ist sehr unzureichend, aber es gibt sie immerhin. Die US-Geheimdienste dagegen spionieren in Deutschland und gegen deutsche Bürger, ohne dass die Parlamente und die Regierung irgendeinen Einfluss darauf hätten. Die US-Spionagegewalt ist ganz offensichtlich nicht "an Gesetz und Recht", nicht "an die verfassungsmäßige Ordnung" gebunden, wie es der Artikel 20 fordert. Das ist, um es sehr vorsichtig zu formulieren, nicht in Ordnung, das ist verfassungswidrig. Das ist staatsgefährdend.

Der deutsche Staat hat den umfassenden Schutz der Grundrechte des Grundgesetzes garantiert. Wenn er diese Garantie nicht einhalten kann oder einhalten will, wenn diese Garantie also nichts mehr gilt, handelt es sich um einen Fall von Staatsnotstand.

Der Bundesinnenminister ist zugleich Verfassungsminister. Der derzeitige Amtsinhaber Hans-Peter Friedrich, CSU, ist sich offensichtlich dessen nicht bewusst. Er tut so, als gelte es lediglich, den Amerikanern gesprächsweise beizubringen, dass die Deutschen halt so sensibel seien, wenn es um ihre Grundrechte geht. Minister Friedrich versteht offenbar nicht, dass der Schutz der Grundrechte der Bürger zum Wesen des Staates und zu den Hauptaufgaben seines Amtes gehört. Es geht bei den Spionageangriffen nicht um Petitessen, es geht nicht um Sensibilitäten, es geht um den Kern von Demokratie und Rechtsstaat.

Ein Minister, dem man das erst erklären muss, ist nicht ein Minister der Bundesrepublik, sondern ein Ministrant der US-Sicherheitspolitik. Mit seinem Reden von der Sicherheit als einem Supergrundrecht macht er sich zum NSA-Bruder, zum Bruder im Geiste des US-Geheimdienstes. Die Erfindung eines ungeschriebenen Supergrundrechts Sicherheit ist der Versuch, die Unterhöhlung des Bodens des Grundgesetzes zu rechtfertigen. Der alte, berühmt-berüchtigte Satz des Staatsrechtlers Carl Schmitt - "souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" - darf aber nicht Wahrheit werden. Heute muss gelten: Souverän ist, wer die Grundrechte seiner Bürger schützen kann. Innenminister Friedrich ist es nicht. Diese Bundesregierung ist es auch nicht. Ist es der deutsche Staat?

Manche halten die US-Spionage für Montezumas Rache an der Internet-Generation

Angeblich existieren immer noch etliche vage ehemalige alliierte Vorbehaltsrechte, die den USA zum Schutze ihrer Truppen in Deutschland alles Erdenkliche und nicht näher Festgelegte erlauben. Angeblich haben die Amerikaner beim US-Besuch des deutschen Innenministers auf die Ausübung solcher alten Rechte verzichtet. Nichts Gewisses weiß man nicht. Aber man hat das unangenehm mulmige Gefühl, dass es darauf nicht ankommen wird - weil die USA ganz unabhängig davon, ob noch ein dünner Faden von US-Vorbehaltsrechten in Deutschland existiert, die Macht haben und die Macht nutzen, auf alle Daten zuzugreifen, die sie wollen.

Der Schutz der Grundrechte der Bundesbürger funktioniert offensichtlich nicht. Das ist ein Befund, der einen um den Schlaf bringt - es sei denn, man gehört zu den Phlegmatikern zumal aus der älteren Generation, die glauben, dass sie die Überwacherei nichts anginge, weil sie eh nichts zu verbergen hätten. Diese Leute halten die US-Spionage für Montezumas Rache an der Internet-Generation.

Es gibt ja nicht nur den US-Orwell. Es gibt auch eine deutsche und eine internationale Orwellness: Der Exhibitionismus der Web-Gesellschaft nutzt das Internet als Entblößungsmedium. Aus der Datenaskese der Volkszählungszeit ist eine Datenekstase geworden, eine Selbstverschleuderung von Persönlichkeitsdetails in Wort und Bild. Führt das zur Herrenlosigkeit der Daten? Hat die Gesellschaft den Datenschutz weggeworfen wie ein altes Fahrrad? Mitnichten. Erstens: Zwar wirft man sein Fahrrad nicht einfach irgendwo hin. Aber auch der, der das macht, tut damit nicht kund, dass er künftig auf den Schutz seines gesamten Eigentums verzichten will. Zweitens: Internet-Exhibitionisten können nicht die Grundrechte für andere und schon gar nicht für die gesamte Gesellschaft aufgeben.

Dringend nötig: Ein Rettungspaket für die Grundrechte

Als die Banken gefährdet waren, gab es Krisensitzungen. Deutschland und die EU haben Banken Milliardensäcke vor die Tür gestellt, um sie zu wieder zu stabilisieren. Womit stabilisiert die Bundesregierung den Boden des Grundgesetzes? Welche Krisengipfel hat die Regierung Angela Merkel angesichts der Gefahren für die rechtsstaatliche Tektonik einberufen? Welche Rettungsmaßnahmen gibt es? Keine. Nicht auf deutscher Ebene, nicht auf europäischer. War das Geld, war der Euro wichtiger, als es die Grundrechte sind? Das sicher Geglaubte ist nicht mehr sicher, die Grundrechte sind nicht mehr gewiss. Das ist keine Lappalie. Das ist ein Fall von Staatsnotstand. Und das besonders Schlimme daran ist, dass die Bundesregierung die Not nicht erkennt oder nicht erkennen will.

In den Staaten der westlichen Welt ist, angeführt von den USA, ein merkwürdiger Prozess der Umkehrung rechtsstaatlicher Logik im Gang: Die Rechtsstaatlichkeit misst sich offenbar nicht mehr daran, dass man die Grundrechte einhält. Stattdessen werden die Verletzungen von Grundrechten damit gerechtfertigt, dass ja ein Rechtsstaat sie vornehme. Der Begriff "Rechtsstaat" wird seines Inhalts entblößt und ungeachtet dessen einfach gesetzt. Die Vereinigten Staaten begründen auch die größten Anrüchigkeiten auf diese Weise: Man sei ja ein Rechtsstaat; das adelt dann vermeintlich auch noch das Waterboarding.

Die Anti-Terror-Politik aber hat Recht und Rechte weggeräumt

Die Sicherheitsapparate eines Polizeistaats dürfen alles, was sie können. Die Sicherheitsapparate eines Rechtsstaats können alles, was sie dürfen. Sie dürfen und können ziemlich viel, aber das hat eine Grenze. Das galt vor dem 11. September 2001, und das muss auch nachher so sein; es ist aber nicht mehr so. Die Sicherheitspolitik der westlichen Länder hat in ihren Reaktionen auf die Terroranschläge verkannt, dass auf Dauer nur Recht die Freiheit sichern kann. Die Anti-Terror-Politik aber hat Recht und Rechte weggeräumt, um so für Sicherheit zu sorgen. Die USA waren und sind bei diesem Tun besonders exzessiv - der monströse Zugriff auch auf deutsche Daten und deutsche Bürger ist Teil dieser US-Exzessivität.

Stark ist nicht der Staat, der den Bürgern mit einem Generalverdacht gegenübertritt und grundsätzlich jedem misstraut. Stark ist der Staat, der die Sicherheit hat, dass die Menschen- und Bürgerrechte die besten Garanten der inneren Sicherheit sind. Der demokratische Staat, der nur wegen und aus der Freiheit seiner Menschen besteht, darf sich nicht gegen seine Schöpfer wenden.

"Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen." Das steht im ersten Entwurf des Grundgesetzes, im Artikel 1 des Entwurfs von Herrenchiemsee. Die USA haben dies einst die Deutschen gelehrt.

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