Grenzen der Belastbarkeit:Deutsche Extremisten

Mit dem Schilfbott über den Atlantik? Ein Marathonlauf in der Sahara? Warum so viele Menschen in ihrer Freizeit gefährliche Herausforderungen suchen.

Werner Bartens

Als George Mallory gefragt wurde, warum er den Mount Everest besteigen wollte, da antwortete er: "Weil er da ist." Der britische Bergsteiger und dreifache Vater starb 1924, keine 38 Jahre alt, beim dritten Versuch, den höchsten Gipfel der Welt zu erreichen. Erst 1999 wurde seine Leiche gefunden.

Zugspitzlauf, Extremsport, dpa

Extremsport, der lebensgefährlich werden kann: 2008 starben zwei Männer beim Zugspitzlauf.

(Foto: Foto: dpa)

Weil er da ist? Kann man diese Antwort auch für den Gipfel der Zugspitze gelten lassen? Er wurde zigtausendmal bezwungen von Bergsteigern, Seilbahnfahrern, Touristen und ist im Vergleich zum Everest mickrig - gerade 2962 Meter hoch. Da jeder Mensch sich mittlerweile auf die Zugspitze gondeln lassen kann, müssen andere Herausforderungen her, als den höchsten deutschen Berg nur schlicht zu erklettern. Beim Zugspitzlauf von Ehrwald bis zum Gipfel gilt es, auf einer Strecke von 16 Kilometern 2100 Höhenmeter zu überwinden.

"Ich erlebe meinen Körper, also bin ich"

Das ist mehr als eine Strapaze. Es kann lebensgefährlich sein, wenn die Temperaturen unter den Gefrierpunkt fallen und eisige Windböen mit einer Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern aufkommen. So starben im vergangenen Jahr zwei Männer beim Zugspitzlauf an Unterkühlung und Herzkreislaufversagen - im Schneetreiben auf dem Weg zum Gipfel.

Weil er da ist? Sportveranstalter versuchen, den steigenden Bedarf an emotionaler Befriedigung zu bedienen. Auch bei Extremsportwettbewerben stehen "ganzheitliches Erleben" und andere Formen der spirituellen Überhöhung im Vordergrund. "Ich erlebe meinen Körper, also bin ich", ist das Credo der Athleten.

Mit dem Schilfboot über den Atlantik

Allein um den Endorphin-Kick, den Rausch durch körpereigene Drogen, kann es bei solchen extremen Belastungen nicht gehen. Die Lust-Hormone durch sportliche Selbstquälerei werden ja auch freigesetzt, wenn man im Stadtpark joggt oder im Fitness-Studio das Laufband traktiert. Diese Art der Leibesertüchtigung verliert aber offenbar für viele Menschen ihren Reiz, weil der zusätzliche Reiz fehlt. Es muss das Besondere sein.

Mit dem Schilfboot über den Atlantik fahren oder auf den Knien durch Cornwall robben. Solche oder ähnliche Rekordversuche gab es tatsächlich. Und für Liebhaber der Extreme kann es offenbar nicht extrem genug sein. Etlichen Marathonläufern sind 42,195 Kilometer zu wenig. Sie laufen Ultramarathon und legen Distanzen von mehr als 100 Kilometern zurück. Oder sie laufen Marathon in der Sahara, im Death Valley oder in der Antarktis. Die Wettbewerbe werden immer absurder, da inzwischen jeder Gipfel erklommen, jede Wüste durchschritten und jeder Kanal durchschwommen ist.

Überstandene Ausdauerleistungen dienen auch als Eintrittskarte und Ausweis für die Leistungsgesellschaft. Wer im Bewerbungsschreiben Triathlon oder Marathon als Hobby angibt, hat schon ein paar Punkte gemacht. Die Attribute Disziplin, Durchhaltevermögen und Verzicht, auch wenn es hart wird, sind hier gleich mitgedacht.

Erlösung und Zufriedenheit kann es aber nur für kurze Zeit geben, wenn die bewältigte Herausforderung nur der Zwischenschritt zur nächsten, extremeren Aufgabe ist. Die Ambivalenz zwischen Leistungsanspruch und Genugtuung hat der Soziologe Zygmunt Baumann beschrieben: Einerseits ist da "die Angst, niemals den Gipfel zu erreichen (und nicht einmal zu wissen, welcher Weg hinaufführt)", demgegenüber steht "die Angst, ihn tatsächlich zu erklimmen (und nun zu wissen, dass es nicht mehr höher geht)".

"Erst da ich sterbe, spür ich, dass ich bin"

Um die Gefahr beim Zugspitzlauf zu unterschätzen, braucht es allerdings nicht nur den Adrenalin-Stoß, den jede extreme Leibesertüchtigung mit sich bringen kann. Das Erlebnis in der Gruppe trägt ebenfalls dazu bei. Wenn Hunderte gemeinsam Richtung Gipfel stürmen, und ein Veranstalter das Rennen organisiert, kann es schon nicht so schlimm oder gefährlich werden. Wenn Menschen sich schinden und zu Extremleistungen zwingen, steht noch etwas anderes dahinter als der Versuch, einen skurrilen Rekord aufzustellen. Die monoton empfundene Existenz des Büronomaden soll überwunden werden, im Abenteuer, in der Suche nach dem authentischen Augenblick, der eben auch totale Erschöpfung, Schmerz und Lebensgefahr bedeuten kann. "Erst da ich sterbe, spür ich, dass ich bin", sagt Claudio in Hugo von Hofmannsthals kleinem Drama "Der Tor und der Tod".

Man muss es nicht so pathetisch ausdrücken, aber Ereignisarmut im Alltag geht manchmal mit übersteigerter Erlebnissehnsucht in der Freizeit einher, die sich eben auch in der Suche nach Seitenstechen, abgefrorenen Zehen und Todesangst manifestieren kann.

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