Fall Anthony Weiner:Fremdschämen für Carlos Danger

Warum tut dieser Mann das sich, seiner Familie und der Öffentlichkeit an? Der neue Sex-Skandal um den New Yorker Bürgermeister-Kandidaten Anthony Weiner lässt Politik und Privatsphäre auf neue Art verschmelzen. Dass sich ausgerechnet seine blamierte Ehefrau für ihn einsetzt, ist die zynische Pointe.

Von Johannes Kuhn

Es war einer dieser schmerzvollen Momente, die tiefe Kerben in den Boulevard der Aufmerksamkeit schlagen: "Ich bin verantwortlich für das Verhalten, dass uns hierher geführt hat", erklärte Anthony Weiner zerknirscht, um dann ernst wie trotzig zu ergänzen. "Aber eigentlich ist die Lage kaum eine andere als gestern."

Dann ergriff seine Ehefrau Huma Abedin das Wort: "Unsere Ehe hatte wie viele andere ihre Höhen und Tiefen", sagte sie den anwesenden Journalisten in der spontan anberaumten Pressekonferenz. "Es war eine Menge Arbeit und viel Paartherapie, die mich dazu gebracht haben, dass ich Anthony vergeben konnte."

Anthony Weiner ist ein enthüllter Politiker, weit jenseits aller doppeldeutigen Zoten: Bereits vor zwei Jahren musste er als Kongressabgeordneter zurücktreten, nachdem er über Social-Media-Kanäle fremden Frauen Bilder seines Geschlechtsteils geschickt hatte, während seine Ehegattin ihr erstes Kind erwartete.

Dem Rückzug ins Private folgte im Mai dieses Jahres das Comeback. Weiner möchte Bürgermeister von New York City werden, die Chancen standen bis Dienstag nicht einmal schlecht. Nun machen erneut Penisbilder im Netz die Runde, bis lange nach seinem Rücktritt hat er offenbar eine intime Online-Sex-Beziehung zu einer jungen Frau gepflegt.

Paartherapie-Fragen für die Öffentlichkeit

Einmal mehr liegt das Privatleben des Ehepaars Weiner-Abedin ausgebreitet vor der amerikanischen Gesellschaft. Wieso konnte er auch nach seinem Rücktritt nicht aufhören, sich den sexuellen Kick über Online-Bekanntschaften zu holen? Warum entschied sich seine Ehefrau, die als Vertraute von Hillary Clinton und selbst als politisches Talent gilt, bei ihm zu bleiben? Was wird noch alles ans Licht kommen?

Kein Paarpsychologe, sondern die Öffentlichkeit wird sich in den kommenden Tagen über Antworten auf diese Fragen Gedanken machen. Weiner hat angekündigt, weiterhin im Bürgermeister-Rennen zu bleiben, dabei haben einflussreiche liberale Medien wie die New York Times oder der New Yorker dem Demokraten bereits wenige Stunden nach den Enthüllungen bescheinigt, unglaubwürdig und unwählbar geworden zu sein. "Es geht hier nicht um Prüderie, sondern um seine Belanglosigkeit, Rücksichtslosigkeit, und um den Versuch, die Wahrheit zu biegen", schrieb die erzürnte New-Yorker-Autorin Amy Davidson.

Ein so starker Eindruck der Erniedrigung des Kandidaten, seiner Familie und der politischen Kultur lag über der Pressekonferenz, dass eine Frage im Raum steht, die weit über den Einzelfall hinausgeht: Warum sind Menschen bereit, einen so hohen Preis für politische Macht zu bezahlen? Denn es ist nicht nur die Fremdscham, sondern auch der Zweck des Auftritts, der dem Zuschauer fast körperliche Schmerzen zufügt: Die Rechtfertigung des eigenen Anspruches auf ein wichtiges politisches Amt.

Er wundere sich, dass die Sache erst so spät herausgekommen sei, erklärte Weiner, der im Netz unter dem Pseudonym "Carlos Danger" unterwegs gewesen sein soll. "Ich habe gesagt, dass andere Kurznachrichten und Fotos wahrscheinlich an die Öffentlichkeit gelangen werden, und heute ist das passiert". All das liege aber nun im Rückspiegel des Paares, wenn auch nicht allzu weit entfernt. "Ich liebe ihn, ich habe ihm vergeben und ich glaube an ihn", sagte seine Ehefrau.

Zynismus, PR und Vergebung

Wenn man so möchte, wirkt alles wie die tragische Variante einer PR-Strategie, die häufig zur Anwendung kommt, wenn sich Politiker und andere einflussreiche Figuren an ihre Stellung klammern oder sie zurückerobern wollen: Ein neues Problem wird zu einem altbekannten gemacht, das eigentlich schon gelöst ist und keine Rolle mehr spielt. Vergesst die schlechten Seiten der Vergangenheit, so die Botschaft, ich bin der Richtige für die Zukunft.

Ein solches Argumentationsmuster zeugt von einem Selbstbewusstsein, das der Logik "Ohne mich funktioniert es nicht" folgt, aber inzwischen eher wie ein "Ich funktioniere nicht ohne Amt" rezipiert wird. Von klassischen Autokraten über diverse Präsidenten weltweit, die konstitutionelle Einschränkungen ihrer Amtszeiten beseitigen, bis hin zu den jüngsten europäischen Comeback-Bastlern Berlusconi und Juncker - Beispiele gibt es genügend.

Oder sind wir inzwischen so zynisch, dass wir echte Reue und gemeinnützige Motive nicht mehr erkennen können? Zumindest treibt der Fall Weiner die Debatte auf die Spitze: Sollte er im Rennen bleiben, stimmen die New Yorker am Ende nicht nur über Programm und politische Person, sondern auch über die Glaubwürdigkeit des 48-Jährigen als reuiger Ehemann ab.

In einem Land, in dem bei Politikern Privatsphäre und Beruf kaum noch zu trennen sind, erscheint so etwas spätestens seit dem Clinton-Lewinsky-Skandal durchaus konsequent. Dass mit Weiners Ehefrau der Mensch als Leumund auftritt, der von den Skandalen wiederholt am unmittelbarsten und brutalsten betroffen ist, wirkt dann nur noch wie eine zynische Pointe.

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