Proteste in Tunesien:Verzweifeln an der Demokratie

Tunesien ist die Keimzelle des Arabischen Frühlings. Doch inzwischen schwinden in dem nordafrikanischen Land die Hoffnungen auf schnelle Reformen. Stattdessen: Generalstreiks, Massendemonstrationen und kaum Wirtschaftswachstum. Der Demokratisierungsprozess gestaltet sich zäh. Die verfeindeten politischen Lager lähmen die Debatte.

Von Dorothea Grass und Oliver Klasen

Tunesien - das war das Land, in dem der Arabische Frühling seinen Anfang nahm und auf das sich die Hoffnungen der internationalen Gemeinschaft richteten. Innerhalb weniger Wochen schaffte es die Protestbewegung zur Jahreswende 2010/2011, den autoritären Herrscher Zine el-Abidine Ben Ali aus dem Amt zu jagen. Die Übergangszeit war turbulent: Mehrere Regierungen, die kurz aufeinander folgten, Unruhen, Proteste und Generalstreiks. Doch im Vergleich zu Ländern wie Ägypten, Libyen und Syrien verlief die Zeit nach der Revolution relativ friedlich.

Die entscheidende Frage beim tunesischen Experiment war, ob es gelingen würde, einen Demokratisierungsprozess anzuschieben, in dem einer gemäßigt islamischen Regierung die Hauptverantwortung zukommt. Immerhin: Nach einigen Rückschlägen und Verzögerungen war der Fahrplan für den Übergang zur Demokratie schon ausformuliert. Die Verfassungsgebende Versammlung sollte bis Ende Oktober ein Gesetz für Neuwahlen beschließen, diese sollten am 17. Dezember stattfinden.

Inzwischen ist äußerst ungewiss, ob dieser Zeitplan noch steht. Zwei Morde an Oppositionspolitikern haben die Lage verschärft. Erneut gibt es Massenproteste, Islamisten und säkulare Kräfte stehen sich feindlich gegenüber, die Regierung droht zu stürzen. Wo steht Tunesien? Ein Überblick mit den wichtigsten Fragen und Antworten.

Wie ist die aktuelle politische Lage?

Seit Ende Juli organisiert die Opposition in Tunesien jeden Tag Demonstrationen gegen die von der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei geführte Regierung. Auch einen Generalstreik gab es schon. Die Stimmung ist auch deshalb so aufgeladen, weil sich an der prekären wirtschaftlichen Situation vieler Tunesier seit der Revolution nichts geändert hat. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, vor allem junge Menschen haben keine Zukunftsperspektive. Neben Tunis ist seit einigen Wochen die Stadt Sidi Bouzid im Inneren des Landes ein Zentrum der Unruhen. Dort nahm die Oppositionsbewegung vor zweieinhalb Jahren ihren Anfang.

Wegen des Ramadans begannen die Proteste immer erst am späten Abend. Allein in der Nacht zum Mittwoch gingen Zehntausende auf die Straße. Die Demonstranten versammeln sich in Tunis vor dem Gebäude, in dem die Verfassungsgebende Versammlung berät. Am Dienstag hatte eben jene Versammlung aufgrund von Streitigkeiten ihre Arbeit vorübergehend eingestellt. Der Vorsitzende, Mustapha Ben Jaâfar, forderte Regierung und Opposition zu Verhandlungen auf. Es sei seine Pflicht, die Arbeit der Versammlung "bis zum Beginn eines Dialogs auszusetzen". Etwa 70 Abgeordnete haben ihr Mandat niedergelegt.

Die Demonstranten fordern statt des von Ennahda dominierten Kabinetts eine Regierung der nationalen Einheit. Einige Oppositionelle treten auch dafür ein, die Verfassunggebende Versammlung aufzulösen. Ennahda-Vertreter sind strikt dagegen, schon die jetzt verordnete Unterbrechung kritisieren sie scharf. Ben Jaâfar habe damit einen Putsch begangen, argumentiert etwa das Versammlungsmitglied Nejib Mrad im Fernsehsender al-Mutawassit.

Ennahda-Parteichef Rachid Ghannouchi kritisierte die Forderungen der Demonstranten: "In demokratischen Staaten wechseln Demonstrationen keine Regierungen aus", sagte er der Zeitung La Presse. Es gebe "maßlose Forderungen nach der Auflösung der gewählten Regierung". Unglücklicherweise werde in Tunesien jedes Mal, wenn etwas Tragisches passiere, nach dem Sturz der Regierung und des Parlaments gerufen, so Ghannouchi.

Er appellierte an mehrere Oppositionsparteien, der Koalition beizutreten. Außerdem stellte er ein Referendum über den Regierungskurs in Aussicht.

Was war der Auslöser der jetzigen Proteste?

Um die aktuelle Situation zu verstehen, ist es wichtig, über zwei politische Morde Bescheid zu wissen. Am 6. Februar wurde der linke Aktivist Chokri Belaïd vor seinem Haus im Norden von Tunis erschossen. Der ausgebildete Jurist trat für die strenge Trennung von Staat und Religion ein. Nach der Ermordung von Belaïd kommt es zu schweren Unruhen im Land sowie zu Generalstreiks. Im Februar 2013 trat infolgedessen der islamisch-gemäßigte Regierungschef Hamadi Jebali zurück. Seitdem ist eine Regierung mit politisch unabhängigen Experten im Amt, die Neuwahlen organisieren soll.

Wer genau für Belaïds Tod verantwortlich ist, ist offiziell bislang nicht bekannt. Wie Ministerpräsident Larayedh Anfang August sagte, wurden zwar einige Verdächtige festgenommen, der mutmaßliche Todesschütze soll indes weiter auf der Flucht sein.

Am 25. Juli folgte der nächste Mord: Diesmal traf es Mohamed Brahmi, den Gründer der sogenannten "Volksbewegung". Anhänger Brahmis und seine Familie beschuldigen die islamistische Regierungspartei Ennahda, hinter dem Attentat zu stecken. Diese weist diese Vorwürfe zurück und macht radikale Islamisten für die Tat verantwortlich. Das Innenministerium sieht den 30-jährigen, in Frankreich geborenen Boubaker Hakim als Täter an. Er soll der radikalen Gruppe Ansar al-Scharia (Helfer der Scharia) angehören. Sie steht unter Führung des 43-jährigen Seifallah Ben Hassine, genannt Abou Ayad, eines Afghanistan-Veteranen.

Brahmi wurde neben Belaïds Grab beigesetzt - doch es gibt noch weitere Gemeinsamkeiten. Beide sollen mit derselben Waffe getötet worden sein. Beide waren Linke. Beide standen in Gegnerschaft zu den regierenden Islamisten. Beide wurden vor ihrem Haus getötet, nach demselben Muster. Und in beiden Fällen stehen Salafisten unter Verdacht, Täter oder Auftraggeber der Anschläge zu sein.

Wie ist die Regierung zusammengesetzt?

Die wichtigste Kraft ist die von Ghannouchi geführte Ennahda-Partei, eine offiziell moderat islamistische Bewegung, über deren politische Ausrichtung es allerdings in der Vergangenheit einige Verwirrungen gab. In der Verfassungsgebenden Versammmlung ist sie mit 90 der 217 Sitze vertreten.

Ennahda hatte im Herbst 2011 die ersten freien Wahlen nach dem Sturz des Langzeitherrschers Ben Ali klar gewonnen. Seitdem führt sie eine Koalition mit der Mitte-Links-Partei CPR um Staatspräsident Moncef Marzouki und der sozialdemokratischen Partei Ettakatol um Ben Jaâfar, der wiederum der Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung ist.

Was sind die wichtigsten Oppositionskräfte?

Es ist ein sehr breites Spektrum von Gruppen, die sich gegen die von Ennahda dominierte Regierung stellen. Linksextremisten gehören dazu, genauso wie Mitte-Rechts-Parteien. Auch die nationalarabische "Volksbewegung", in der auch der Ende Juli ermordete Brahmi engagiert war, zählt zu den Regierungsgegnern. Sie hat zwar nur relativ wenige Mitglieder und war auch in der Versammlung nur mit zwei Mandaten vertreten; unter Intellektuellen und bei organisierten Arbeitern hat sie jedoch verhältnismäßig viele Anhänger. Unterstützt wird sie von der einflussreichen Gewerkschaft UGTT, die Ende Juli einen Generalstreik organisierte.

Ennahda gerät gleich von zwei Seiten unter Druck: Weltlich orientierte Kräfte werfen ihr vor, die schleichende Islamisierung der Gesellschaft zu betreiben. Radikale religiöse Gruppen wie die Salafisten werben dagegen um enttäuschte Ennahda-Anhänger, denen die Partei zu moderat auftritt.

Welche Rolle spielt die Armee?

Seit dem Sturz von Diktator Ben Ali im Januar 2011 gilt in dem nordafrikanischen Land offiziell der Ausnahmezustand, zuletzt hat Interimspräsident Marzouki die Maßnahme am 3. Juli um weitere drei Monate verlängert. Dadurch verfügen Polizei und Armee über zusätzliche Befugnisse, um gegen radikale Islamisten vorzugehen, die seit der Revolution zahlreiche Anschläge verübt haben.

Ende des vergangenen Jahres begann die Armee einen verstärkten Feldzug gegen Extremisten, zum Beispiel gegen Kämpfer an der Grenze zu Algerien. In der Region der Chaami-Berge kam es in den vergangenen Wochen mehrfach zu Gefechten zwischen Soldaten und bewaffneten Gruppen. Ende Juli wurden in der Nähe der Stadt Kasserine acht tunesische Soldaten durch salafistische Terroristen ermordet.

Im Vergleich zum Militär in Ägypten gelten die Streitkräfte in Tunesien allein schon wegen ihrer geringeren Mannstärke als weniger einflussreich, bislang verhalten sie sich politisch neutral. Einer Analyse des Deutschen Instituts für Nahost-Forschung (GIGA) zufolge ist das tunesische Militär seit dem Umbruch 2011 vor allem mit dem Kampf gegen bewaffnete Islamisten beschäftigt. In Ägypten habe das Militär dagegen eine "zentrale Rolle als politische Vetomacht und Wirtschaftsfaktor".

Wie geht es jetzt in Tunesien weiter?

Viel wird davon abhängen, ob die Ennahda-dominierte Regierung sich an der Macht halten kann. Zwar lehnt sie einen Rückzug aus der politischen Verantwortung ab und will auch nicht auf den Posten des Ministerpräsidenten verzichten, den derzeit ihr Parteimitglied Ali Larayedh innehat.

Allerdings ist Ennahda bereit, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Dann wäre die Macht im Land zwischen den drei großen Lagern - Säkuläre, gemäßigte Islamisten und Salafisten aufgeteilt. Völlig unklar ist allerdings, ob sich all diese unterschiedlichen Kräfte überhaupt gemeinsam in die politische Verantwortung zwingen lassen.

Ob internationale Vermittler in der vertrackten Situation weiterhelfen könnten, ist ungewiss. "Wir haben die Pflicht zum Erfolg", diesen Satz hat der französische Präsident François Hollande Anfang Juli über die Reformen in Tunesien gesagt. Derzeit sieht es so aus, als seien diese Worte eher Wunschvorstellung als realistisches Ziel.

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