CDs der Woche - Die Retrokolumne:Was vom Punkrock übrig blieb

Album "First Issue" von Public Image Limited mit dem ehemaligen Sex Pistols-Sänger John Lydon

Nach den Sex Pistols wollte John Lydon alles anders machen und schockierte auf dem Album "First Issue" mit Dub-Rythmen.

(Foto: Cargo)

Das England der Achtzigerjahre war vor allem eins: grau. Die CD-Box "A Story of Indie Pop" versammelt die wenigen Lichtblicke dieser Zeit. Die Retrokolumne - zum Lesen und zum Hören.

Von Max Fellmann

Public Image Limited

England 1978. Das erste Album von Public Image Ltd. (PIL), "First Issue" (Cargo). Reine, kalte, in Töne gegossene Misanthropie, die einem auch 35 Jahre nach der Erstveröffentlichung den Atem nehmen kann. Als die Sex Pistols sich auflösten, wollte John Lydon etwas anderes machen, aggressiv, zeitgemäß, bloß nicht wieder Punkrock.

Das englische Musikmagazin Pitchfork schrieb vor Kurzem: "Die Pistols waren eine Rock-'n'-Roll-Band mit einem Sänger, der Rock 'n' Roll hasste. Danach wollte er jedem zeigen, wie sehr." Was übrig blieb, war die reine Verweigerung. Der Kern des Punk, eigentlich. Lydon hasste ja alles und jeden, ganz besonders sein Publikum, die bierseligen, pogotanzenden Punks vor der Bühne. Jetzt knallte er ihnen mit seiner neuen Band PIL ein Album vor die Springerstiefel, das wie ein Exorzismus wirkt: entrückte Dub-Rhythmen, kaltes Gitarrenkreischen, Hartgummibässe, die einem fies in die Nieren hauen. Darüber nihilistische Predigten in scharfem Nölton (immer noch groß: die Atheistenhymne "Religion"). Selten hat sich jemand so radikal, so brutal von sich selbst verabschiedet.

Dass Lydon seiner Sache nicht völlig sicher war, ist sehr schön auf der Bonus-CD dieser Wiederveröffentlichung zu erkennen, die enthält ein einstündiges Interview aus dem Jahr 1978. Heute ist Lydon ein selbstverliebter Haudrauf, der sogar seine Werbespots für Butter großmäulig verteidigt - dagegen kann einen der 22-jährige Bursche in diesem Gespräch fast rühren: Der wirkt eher wie ein bissiges Tierchen, in die Ecke gedrängt und böse zischelnd. Possierlich.

Wenn Sie diese Songs nicht hören können, melden Sie sich bitte bei Spotify an.

Scared To Get Happy

Es gibt diese Tage, an denen die ganze Welt unter schweren Wolken begraben ist, aber ab und zu schafft ein einzelner Sonnenstrahl den Weg auf die Erde, nur ganz kurz, nur ganz zaghaft, aber schon dafür ist man endlos dankbar. Ungefähr so muss es sich angefühlt haben, im England der frühen Achtzigerjahre jung zu sein. Das Leben: grau. Die Lichtblicke: Songs. Die Box "A Story Of Indie Pop 1980 - 1989" (Cherry Red/Rough Trade) versucht mit 134 Stücken auf fünf CDs, diese Zeit nachzuzeichnen.

CD-Box "Scared To Get Happy - A Story Of Indie Pop 1980 - 1989"

134 Stücke sind in der CD-Box versammelt. Was sie verbindet, ist der Weltschmerz, der Ruß der Arbeitervorstädte und die Sehnsucht nach Flucht.

(Foto: Cherry Red/Rough Trade)

Indie Pop also, hier mal grob definiert als der schmale Streifen zwischen New Wave (düster) und Mainstream-Pop (plastikbunt). In Bands gesagt: alles von Prefab Sprout bis TV Personalities, von Aztec Camera bis James, von Soup Dragons bis Primal Scream. Schon bei diesen paar Namen wird klar: Die Grenze zur Beliebigkeit ist in Sichtweite. Jerry Reed, Betreiber des Labels Cherry Red und Kompilator der Box, schafft es trotzdem, die Songs gut ineinander fließen zu lassen. Punk war damals gerade vorbei, frühe Shoegazer-Melancholie trifft auf erstes schüchternes Prä-Britpop-Getöne. In den Gitarren steckt noch die Wut (und die Unbeholfenheit) des Punk, in den Stimmen zeigt sich oft der Wille, Bleibendes zu schaffen, wenn alles gut geht, vielleicht sogar einen Radiohit - etwas, das bleibt. Immer bleibt erkennbar, was die Bands verbindet, der hellhäutige Weltschmerz, der Ruß der Arbeitervorstädte, die Sehnsucht nach kurzen Momenten der inneren Flucht.

Indie, das bedeutet nicht nur Unabhängigkeit, sondern auch Außenseitertum. Die bekanntesten Namen sind mit schönen Fundstücken vertreten, die La's mit "Son Of A Gun" in einer Demo-Version, die Stone Roses mit der Single-B-Seite "The Hardest Thing In The World". Und dann sind ungefähr 50 Namen zu entdecken, die selbst manische Indie-Fans kaum kennen werden (sofort liebenswert: The Pooh Sticks - je von denen gehört?). Runde Sache.

The Teardrop Explodes

Nochmal England, nochmal frühe Achtzigerjahre - und auf der eben besprochenen Compilation rätselhafterweise nicht vertreten: The Teardrop Explodes. Dabei haben gerade sie die Idee vom großen Pop mit bescheidenen Mitteln so vehement verfolgt.

Album "Wilder" von The Teardrop Explodes nun auch als Doppel-CD mit Live-Versionen

Das Album "Wilder" von The Teardrop Explodes ist nun als Doppel-CD mit Live-Sessions erhältlich.

(Foto: Mercury/Universal)

Ihr Sänger Julian Cope war sympathisch größenwahnsinnig, was im Pop nie verkehrt ist. Solo verlor er sich später im Verkünstelten, aber auf dem zweiten Album "Wilder" (Mercury/Universal, jetzt als Doppel-CD mit Live-Versionen und Peel-Sessions) gelang der Band aus Liverpool die Verbindung von Ohrwürmern und Universitätsbücherei. Das Ganze erinnert manchmal an Vieldenker wie XTC oder Talking Heads, Cope jaulte wie Kevin Rowland von Dexys Midnight Runners und Robert Smith von The Cure.

Epochenprägend war das alles nie, aber ihren kurzen Moment in der britischen Popgeschichte hatte die Band. Anders gesagt: Mit einem Platz in der 134-Song-Sammlung oben wäre sie genau richtig aufgehoben.

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