Ägypten im Ausnahmezustand:Grausame Symbiose von Polizeistaat und Islamisten

A poster of deposed Egyptian President Mohamed Mursi lies on a bulldozer near Cairo University and Nahdet Misr Square in Giza, south of Cairo

Chaos in Ägypten: ein Bulldozer der Regierung inmitten brennender Barrikaden in Kairo

(Foto: REUTERS)

Notstandsgesetze, Militärherrschaft und ein innerer Feind: Zweieinhalb Jahre nach dem Aufstand gegen Hosni Mubarak ist Ägypten ein Land voller enttäuschter Hoffnungen. Vom Vorreiter in der Region ist es zum Risikofaktor geworden. Doch anders als früher lassen sich die Menschen nicht mehr so einfach einschüchtern.

Ein Kommentar von Sonja Zekri, Kairo

Ausnahmezustand in Ägypten. Der mächtigste Mann des Staates ist ein Offizier. Proteste werden zerschlagen. Medien üben Selbstzensur - besser Ruhe als Chaos. Polizeistaat und Islamisten umklammern sich in grausamer Symbiose.

Innenministerium und Geheimdienst beschwören die islamistische Terrorgefahr. Die Religiösen beschwören den Unrechtsstaat. So gewinnen beide Anhänger. Mohammed el-Baradei, Friedensnobelpreisträger, einsamer Liberaler, ist eine ferne, viel bespottete Figur. Wir schreiben den 24. Januar 2011. Am Tag darauf bricht der Aufstand gegen Hosni Mubarak los.

Heute, zweieinhalb Jahre, ungezählte enttäuschte Hoffnungen und viele Tote später, hat Ägypten in vieler Hinsicht wieder den 24. Januar erreicht, den Status quo ante. Notstandsgesetze, Militärherrschaft, innerer Feind, alles da. El-Baradei, von vielen Ägyptern nie akzeptiert, ist isolierter denn je. Am Dienstag installierte die Übergangsregierung neue Gouverneure, meist Generäle oder Kostgänger des Mubarak- Regimes. Einer der neuen Würdenträger hatte als Vizegouverneur von Alexandria eine Lehrerdelegation mit seiner Pistole bedroht.

Hohe Verluste, geringe Erfolge

Die Polizei hat aufgerüstet - materiell und psychologisch. Nach mehr als 550 Toten am Mittwoch versprach der Innenminister "noch größere Sicherheit" als unter Mubarak. Politiker und Aktivisten jauchzten. Über Wochen hatte das Fernsehen die Zeltlager für den gestürzten Präsidenten Mursi als Terrornester mit geradezu titanischem Zerstörungspotenzial beschrieben.

Als der Innenminister nun Waffenfunde präsentierte, seufzten viele Ägypter vor Erleichterung: Wir sind noch einmal davongekommen. Die Islamisten, umgekehrt, hatten in völliger Verkennung ihrer Unbeliebtheit jede Verhandlung abgelehnt, eskaliert, provoziert und tote Kinder wie Sieger gefeiert. Polizeistaat und Muslimbruderschaft, die vermeintlichen Kontrahenten, spielen sich gegenseitig furchtbar in die Hände.

Aber so einfach ist es nicht, so leicht lassen sich zweieinhalb Jahre nicht auslöschen. Gewiss, die Armee ist populär wie unter Mubarak, sogar bei den Muslimbrüdern, die ihren Hass auf Armeechef Sisi beschränken.

Bis an die Zähne bewaffnet

Aber kann das Militär sein wichtigstes Versprechen einlösen, kann es Sicherheit schaffen und das aufgewühlte Land befrieden? Ägyptens Armee ist längst mehr Wirtschaftsimperium als kampfstarke Truppe. Auf dem Sinai führt sie mit Billigung und Beteiligung Israels einen Krieg gegen Dschihadisten. Die Verluste sind hoch, die Erfolge gering.

In Kairo ist der scheinbar übermächtige "tiefe Staat" aus Armee, Polizei, Justiz und Geheimdienst sechs Wochen nach dem Sturz von Präsident Mursi nicht in der Lage, einige der lautesten Krakeeler der Muslimbrüder festzusetzen - oder er will es nicht. In Oberägypten brennen seit dem Blutbad in Kairo Dutzende Kirchen, Klosterschulen, christliche Häuser. Die Polizei hatte keine Vorkehrungen getroffen und griff oft auch nicht ein. Sie ist selbst oft Ziel der Angriffe. Mehr als 40 Beamte starben seit Mittwoch, und der Konflikt hat gerade erst begonnen.

Anders als vor zwei Jahren sind viele Ägypter bis an die Zähne bewaffnet mit Arsenalen aus Gaza, aus Libyen oder aus dem heimischen Hobbykeller. Die Kalaschnikows der Muslimbrüder sind nur ein Teil des Problems. 15-Jährige an Straßensperren von sogenannten "Volkskomitees" fuchteln auf den Straßen mit selbstgebauten Pistolen herum. Die Polizei, eine notorisch korrupte Foltertruppe, hatte das Land boykottiert und der Anarchie überlassen, weil ihr der Sturz Mubaraks nicht gepasst hat. Nun muss sie sich ihre unangefochten gefürchtete Stellung erst wieder erkämpfen.

Überhaupt sind die Menschen so einfach nicht mehr einzuschüchtern, sie stellen Forderungen. Mursis Sturz hat gezeigt, wie schnell sie den Herrschenden ihre Zuneigung entziehen. Die Preise steigen, die Ersparnisse sind aufgebraucht, die Wirtschaft ist gelähmt. Einen Herrscher, der auf diese Fragen keine Antwort findet, rettet auch der Notstand nicht.

So taumelt Ägypten von Krise zu Krise. Das Land, das sich auf seine Vorreiterrolle in der Region so viel zugute hält, ist zum Risikofaktor geworden. An Kompromiss oder Demokratie hat niemand Interesse, ja, Politik schlechthin ist im Militärstaat fern. Jeder hört, was er hören will und pflegt ein realitätsresistentes Weltbild, das größte Härten rechtfertigt. Das Ausmaß an Inhumanität auf allen Seiten ist bemerkenswert.

Inzwischen ist eine ungeschminkte Militärherrschaft ein schlimmes Szenario, ein gescheiterter Staat ein schlimmeres. Mut macht nur die Jahrhundertperspektive - Europa 1848 oder der Prager Frühling: Vermeintlich verpuffte Freiheitsbewegungen, die eben doch vermeintlich ewige Systeme aushöhlten.

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