Kleine Meerjungfrau wird 100:Bronzemädchen auf dem Felsen

Kleine Meerjungfrau feiert 100. Geburtstag

Die Bronzeskulptur zeigt die Heldin aus Hans Christian Andersens Märchen.

(Foto: dpa-tmn)

Trist ist der Ort, an dem Kopenhagens Kleine Meerjungfrau sitzt. Das passt zu ihrem traurigen Blick, mit dem sie sich seit 1913 nach dem unerreichbaren Prinzen sehnt. Dabei musste sie bereits einige Anschläge ertragen - und Missverständnisse.

Von Thomas Kirchner

Vielleicht wirkt sie so winzig, weil einem um sie herum alles so riesig vorkommt: die Schornsteine, Kräne und Lagerhäuser auf der gegenüberliegenden Landseite; die Schiffe, die in ihrem Rücken Richtung Ostsee dampfen. Vielleicht liegt es daran, dass sie auf ihrer Schwanzflosse sitzt und deshalb nur 1,25 Meter hoch ist. In Wahrheit ist die Kleine Meerjungfrau jedenfalls größer als man denkt. "Eineinhalb mal so groß wie ich", sagt Alice Eriksen. "Und ich liege im skandinavischen Durchschnitt."

Es war ihr Großvater Edvard Eriksen, der die Bronzeskulptur schuf, nach der Heldin des 1837 veröffentlichten gleichnamigen Märchens von Hans Christian Andersen. Am kommenden Freitag vor hundert Jahren, am 23. August 1913, wurde sie aufgestellt, auf einem Felsen im Hafenbecken von Kopenhagen, gleich neben dem alten Kastell, fernab vom Trubel der Stadt. Ein etwas trostloser Ort, er passt zum traurigen Blick der Nixe, die sich nach dem unerreichbaren Prinzen sehnt, den sie vor dem Ertrinken gerettet hat. Der Platz wirkt wie zufällig gewählt, aber das ist er keineswegs. Denn hier an der Langelinie-Uferpromenade machten die Kopenhagener damals gerne ihren Sonntagsspaziergang. Der führte sie regelmäßig an der Skulptur vorbei, die ihnen der Brauerei-Erbe Carl Jacobsen geschenkt hatte.

Der Mäzen und ihr Großvater hätten sogar gestritten über die richtige Stelle, erzählt Alice Eriksen. Während Jacobsen sich einen künstlichen See mit Blumen wünschte für das Werk, beharrte der Bildhauer darauf, dass eine Meerjungfrau ins Meer gehöre, wo auch mal der Sturm bläst und die Wellen spritzen.

Er ahnte nicht, dass seine Skulptur Schlimmerem als den Gezeiten ausgesetzt sein würde: jährlich Hunderttausenden Touristen, die sich gerne grinsend an sie schmiegen und das nackte, bronzene Wesen an delikaten Stellen begrapschen. Und allerlei Verstümmelungen: 1964 und 1998 wurde die Meerjungfrau enthauptet, 1984 sägte man ihr den rechten Arm ab, sie wurde mit Farbe besprüht, mit einer Burka und einem Plastikpenis versehen, 2003 gar komplett von ihrem Felsensitz gesprengt. Die Täter wurden nie gefasst.

Nicht alle Kopenhagener verehren das Wahrzeichen ihrer Stadt, manche rollen mit den Augen, wenn man sie auf Den lille Havfrue anspricht. Aber insgesamt scheint die Zuneigung doch zu überwiegen, sonst hätte es nicht so lauten Protest gegeben, als das Bronze-Mädchen 2010 zur Weltausstellung nach Shanghai geflogen wurde. Auch Alice Eriksen hielt das für keine gute Idee, aber sie bot an, für die sechs jungfrau-losen Monate eine Kopie aus ihrem Besitz herzugeben, die sie aus Respekt vor der Kunst nicht ans Wasser, sondern in den Vergnügungspark Tivoli unweit des Hauptbahnhofs bringen ließ.

Modell Eline oder Ellen?

Das Original steht längst wieder an Ort und Stelle. Es ist übrigens - mit dem Gerücht räumt Alice Eriksen energisch auf - wirklich das mehrmals restaurierte Original "und nichts anderes".

Die 60 Jahre alte Kopenhagenerin und ihre Brüder verfügen über die Rechte am Werk des Großvaters, die erst 2029, also 70 Jahre nach dessen Tod, erlöschen. Bis dahin fließt ein Teil des Erlöses aus dem Souvenirhandel mit der Meerjungfrau an die Familie. Über sie kann man auch offizielle Kopien der Skulptur beziehen, gefertigt von einem Bronzegießer ihres Vertrauens. Es gibt sie in drei Versionen, zum Preis von 2600 Euro für die kleinste bis 74.000 Euro für die große. Diese ist allerdings immer noch um ein Fünftel kleiner als das Original, so hat es der Großvater persönlich im Testament verfügt.

Die Käufer sind überwiegend reiche Amerikaner und Japaner, dänische Firmen, die eine Filiale in China aufmachen, oder Botschaften, die sich ein Stück Dänemark in den Garten holen. "Leben können wir nicht von den Einnahmen", sagt Eriksen, zumal haufenweise illegal kopiert werde. Alle in der Familie hätten einen normalen Beruf, sie selbst sei Lehrerin.

Es gibt noch etwas, das Alice Eriksen unbedingt richtigstellen will. So war der Auftraggeber Jacobsen tatsächlich inspiriert von einer Ballettadaption des Märchens im Königlichen Theater, mit Ellen Price in der Titelrolle. Dass aber das Gesicht der Skulptur die Tänzerin zeige (die sich angeblich weigerte, nackt zu posieren), während der Oberkörper von Eriksens Frau Eline komme, stimme nicht. In Wahrheit sei nie die Rede davon gewesen, die Ballerina als Modell zu nehmen. "Das hätte meine Großmutter nicht zugelassen", sagt Alice Eriksen, "sie saß schließlich bei allen Frauen-Skulpturen ihres Mannes Modell." Wie es wirklich war, versuchen die Historiker noch herauszufinden, jedenfalls sehen Eline und Ellen einander auf alten Fotos sehr ähnlich.

In Kopenhagen wird groß gefeiert am 23. August. Man wird Reden halten, Andersens Märchen vorlesen, und hundert Frauen springen ins Wasser, um die Zahl 100 zu formen.

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