Digitalisierung und Konsumverhalten:Das kaufen wir euch nicht ab

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Die Digital Natives müssen ihre Besitztümer nicht tatsächlich besitzen.

(Foto: REUTERS)

Ein Konsumforscher hat vor 25 Jahren behauptet, Besitz bereichere die Identität. Jetzt sieht er sich zur Revision seiner These genötigt. Grund dafür sei die Digitalisierung, die eine Generation völlig neuer Konsumenten hervorgebracht habe: die Millennials.

Von Bernd Graff

Im Jahr 1890 kümmerte sich William James, der amerikanische Philosoph und Harvard-Professor für Psychologie - ein Mann, der berühmt wurde für seine Theorien zum Ich und zum Selbst -, um die Frage: Warum wollen Menschen eigentlich Besitz anhäufen?

James gab darauf folgende Antwort: "A man's Self is the sum total of all that he CAN call his, not only his body and his psychic powers, but his clothes and his house, his wife and children, his ancestors and friends, his reputation and works, his lands, and yacht and bank-account. All these things give him the same emotions. If they wax and prosper, he feels triumphant; if they dwindle and die away, he feels cast down - not necessarily in the same degree for each thing, but in much the same way for all."

("Das Selbst eines Mannes ist die absolute Summe von allem, das er sein eigen nennen kann. Nicht nur sein Körper und seine psychischen Kräfte, sondern auch seine Kleidung und sein Haus, seine Frau und Kinder, seine Vorfahren und Freunde, sein Ruf und seine Arbeit, seine Ländereien, Yacht und Bankkonten. Alle diese Dinge geben ihm dieselben Gefühle. Wenn sie anwachsen, fühlt er sich herrlich; wenn sie schrumpfen und wegsterben, fühlt er sich niedergeschlagen - nicht notwendigerweise in demselben Maße für jedes einzelne Ding, aber auf die ziemlich gleiche Weise für alle.")

Ziemlich genau 100 Jahre später, im Jahr 1988, vor einem Vierteljahrhundert also, fand sich diese James-Passage in einem wissenschaftlichen Aufsatz wieder, der im Journal of Consumer Research veröffentlicht wurde: "Besitztümer und das Erweiterte Ich" ist er überschrieben.

In diesem Aufsatz, der seither abertausende Male zitiert wurde, versuchte der Autor Russell Belk dieses Konzept des erweiterten Selbst für die Konsumforschung fruchtbar zu machen. Der Begriff "Erweitertes Selbst" war sein Versuch zu erklären, warum wir "wissentlich oder unwissentlich, absichtlich oder unabsichtlich unseren Besitz als Teil von uns selbst betrachten".

Besitztümer galten hier als eine von vielen Möglichkeiten, wie wir das Konstrukt unseres Selbst aufrechterhalten, für uns und für andere spürbar und sichtbar machen. Eigentlich war es die James-These auf die Bedingungen des hochentwickelten, reifen Kapitalismus angewandt. Natürlich war es keine wirklich neue Idee. Belk setzt das James-Zitat auch gleich an den Aufsatzbeginn. Denn er dekliniert die James-These durch diese vier, vor allem am Kaufverhalten von Heranwachsenden interessierten Punkte:

(1) Das Kind unterscheidet das Selbst von seiner Umwelt

(2) Das Kind unterscheidet das Selbst von Anderen

3) Besitztümer helfen Jugendlichen und Erwachsenen ihre Identität zu bewahren

(4) Besitztümer helfen den Älteren ein Gefühl von Kontinuität zu gewinnen und sich auf den Tod vorzubereiten

Hey, es war 1988. Damals kauften Teenies noch Tonnen von Audio-Kassetten, Shopping-Malls boomten und irgendwie bekam man von der Globalisierung nur mit, dass es - mit echtem Geld! - noch mehr (und internationaler) zu kaufen gab. Und: Niemand wurde bei seinen Einkäufen durch die Displays von smarten Medien, durch die Dauerkommunikation mit den Lieben von den heimischen Kleiderschränken abgelenkt.

Für Jahrzehnte, eigentlich bis zum Ende des letzten Jahrtausends, galt, dass zum Erwachsen- und Konsumentwerden der tatsächlich physische Besitz einer Ware gehörte, die man auspacken und nutzen konnte. Wie man das tat, definierte persönlichen Stil, Geschmack, Charakter - für die Heranwachsenden selbst wie für die Anderen in der Peer Group.

Das hat sich in den letzten 25 Jahren dramatisch geändert. Heute gehört zum Akt des Konsums nicht mehr, dass man den physischen Besitz eines Objekts anstrebt. Musik, Fotos, Videos, sogar unsere geschriebenen Worte sind "weitgehend unsichtbar und immateriell, bis wir uns entscheiden, sie auf Träger zu bringen." Der Autor, der hier zitiert wird, ist wiederum Russell Belk. Er, nun Professor für Marketing an der York University, sah sich genötigt, nach einem Vierteljahrhundert ein Update seiner Ideen zum Erweiterten Selbst zu verfassen, das die neuen Bedingungen der Digitalisierung berücksichtigt. Entsprechend heißt der Aufsatz "Extended Self in a Digital World".

Shoppen selbst ist toll, nicht mehr, die Dinge zu kaufen

Fünf Änderungen in der digitalen Welt charakterisiert dieses Papier nun, das dramatische Änderungen unseres Selbst nach sich zieht. Belk behandelt sie unter diesen Stichworten:

(1) Dematerialization

(2) Reembodiment

(3) Sharing

(4) Co-construction of self

(5) Distributed memory

Das Erweiterte Selbst ist damit nicht verschwunden, es definiert seine Erweiterungen nur völlig anders - was, wie Belk findet, zu nicht unerheblichen Veränderungen im Konsumverhalten führt.

Am augenfälligsten ist der Punkt "Dematerialisierung". Denn wie Belk schreibt: "Die Dinge werden direkt vor unseren Augen verschwinden." Was uns wichtig ist, befindet sich "irgendwo in unseren digitalen Speichermedien oder auf Servern, deren Standort wir nie wissen werden."

Die Digital Natives oder auch die "Millennials", also diejenigen, die eine nicht-vernetzte Zeit nicht mehr kennen und die auf die Generation der Baby-Boomer und die sogenannte Gen-X folgen, müssen ihre Besitztümer nicht tatsächlich physisch besitzen, um sie zu besitzen.

Insofern ist die Verfügbarkeit von (auch immateriellen) Dingen nicht mehr definiert als unmittelbarer Besitz, sondern als Möglichkeit des Zugriffs auf sie.

Oder anders: Nicht der Kauf eines Dings erweitert das Selbst, sondern die unbegrenzte Optionen, überhaupt zu kaufen. Und das wiederum verändert die Weise, wie, warum und wo schließlich noch eingekauft wird.

Shoppen selbst ist toll und hip, heißt das, nicht mehr wie in nahezu allen früheren Generationen, die im Kapitalismus gelebt haben, die Dinge auch zu kaufen. Dazu zählt natürlich, und Belk hebt das hervor, dass die Digitalisierung nun tatsächlich Globalisierung bedeutet: Nicht, was ein Laden in der Nachbarschaft anbietet, kann besorgt werden, sondern prinzipiell alles von überall.

Darum wird Geld wichtiger als Ware. Denn Konsum wird nur dadurch beschränkt, dass ich irgendwo nicht bezahlen kann, nicht mehr dadurch, dass es die Dinge nicht zu erwerben gibt. Darum ist diesen "Millennials" auch wichtiger, dass zum Kaufen die Bewertung durch andere steht und nicht mehr das taktile "Touch and Feel" eines Produktes, das es zu kaufen gilt.

Denn außerdem ist ja auch die Kommunikation über das Erweiterte Selbst, seine Dinge und seine Vorlieben - etwa in Sozialen Netzen - nun globalisiert. Die Reichweite des Selbstausdrucks ist prinzipiell unbegrenzt und nicht mehr nur auf die Peer Group meiner unmittelbaren Nachbarschaft beschränkt.

Nicht nur Dinge werden also durch die Digitalisierung physikflüchtig, heißt das, sondern wir selber auch. Identität, und das nennt Belk "Reembodiment", benötigt nicht länger nur den physischen Körper, sondern kann durch Avatare erweitert und ersetzt werden, durch Facebook-Profile und Videostreams unserer Selbst.

Die Fragen, die sich auftun, berühren eine ganz andere Digital Divide als wir bisher angenommen haben. Es geht nicht mehr nur um Zugang, sondern innerhalb derjenigen, die Zugang haben, ändert sich das, was materialistisch genannt wurde. Wenn die Dinge irrelevant werden, begünstigt das, was man heute die Ökonomie des "Sharings" nennt wie eine Form der Finanzierung, die auf "Crowdfunding" basiert. Eigentum ist langweilig, darüber sprechen nicht. Vielleicht werden die Millennials ja auch wieder sparsam wie die Nachkriegsgenerationen, ihre Urgroßeltern.

Frühere Generationen waren fasziniert vom Eigentum, weil sie glaubten, Waren und Objekte könnten ihr Selbst veredeln. Das kaufen ihnen die jungen Leute heute einfach nicht mehr ab.

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