Flüchtlingsdrama vor Italien:Gefährliche Flucht über das Meer

Lampadusa migration

Auf manchen Flüchtlingsbooten vor Lampedusa stehen Hunderte dicht an dicht. Andere, so wie dieses aus dem Jahr 2011, bringen weniger Menschen nach Europa. Die Gefahr der Überfahrt ist jedoch für alle hoch.

(Foto: dpa)

Das Bootsunglück vor Lampedusa zeigt, wie riskant eine Flucht nach Europa ist. Doch warum nehmen die Flüchtlinge dieses Risiko auf sich? Wie verlaufen die Reiserouten? Und welche Rolle spielen Schlepperbanden? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Von Christina Metallinos und Pascal Paukner

Mehr als 110 Flüchtlinge sind tot, Hunderte gelten als vermisst. Seit Jahren schon debattiert die Europäische Union über ihren Umgang mit Flüchtlingen. Nun schreckt die Katastrophe vor der italienischen Mittelmeerküste den Kontinent abermals auf. Lampedusa ist Sinnbild für eine gescheiterte Flüchtlingspolitik, die wenige Gewinner, aber viele Verlierer hervorbringt.

Woher kommen die Bootsflüchtlinge?

Wenn Flüchtlinge an den europäischen Mittelmeerküsten stranden, dann haben sie einen Großteil ihrer Flucht schon hinter sich. Somalia, Äthiopien, Eritrea - das sind die Länder, aus denen viele Menschen über das Mittelmeer nach Europa fliehen. Auch die nun verunglückten Bootsinsassen stammten größtenteils aus Eritrea. Die Hoffnung auf ein besseres Leben, das Ende der Verfolgung aus religiösen oder politischen Gründen oder das Wiedersehen von Verwandten sind laut wissenschaftlichen Untersuchungen die häufigsten Gründe, weshalb Menschen ihre Heimatländer verlassen.

Doch kaum ein Flüchtling macht sich dabei alleine auf den Weg. Eine wichtige Rolle spielen Schleuserbanden, die den Transport organisieren. Unter welchen Bedingungen der geschieht, hängt stark vom Herkunftsland und der finanziellen Situation des Flüchtlings ab. Flüchtlinge aus dem bürgerkriegsgeplagten Somalia beispielsweise reisen oftmals über die Staaten im Nordosten Afrikas nach Libyen oder Tunesien.

Wie verlaufen die Fluchtrouten?

Dort angekommen, brechen die Flüchtlinge bevorzugt von den Küstenstädten Tripolis, Bengasi, Sfax oder Sousse auf und setzen nach Lampedusa, Sizilien oder Malta über. Wenn es gut geht. Die Route über das Mittelmeer ist riskant, weshalb sie auch hauptsächlich von Migranten aus Afrika benutzt wird, die sich keine gefälschten Papiere oder einen Flug nach Europa leisten können. Eine Schiffsüberfahrt von Libyen nach Italien ist manchmal für tausend Euro zu haben. Eine perfekt organisierte Einreise beispielsweise aus China mit gefälschtem Pass, Flug und Unterkunft kann auch bis zu 100.000 Euro kosten.

Die Wege, auf denen Flüchtlinge nach Europa gelangen, verändern sich ständig, wie Daten der europäischen Polizeibehörde Europol und der Grenzschutzbehörde Frontex zeigen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kam die Mehrzahl der Flüchtlinge aus Westafrika. Die Flucht nach Europa erfolgte dann über Mali, Algerien und Marokko nach Spanien. Das änderte sich fünf Jahre später. Die meisten Flüchtlinge versuchten, von Marokko und der Westsahara aus auf die Kanarischen Inseln zu gelangen. Seit 2008 verlagern sich die Wanderungsrouten weiter ostwärts.

Seit einigen Jahren, vor allem aber seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs, gewinnt die Einreise über die Türkei und Griechenland an Bedeutung, begünstigt durch das visumsfreie Reisen, das die Türkei Einreisenden aus Syrien noch immer ermöglicht. 90 Prozent der illegalen Einwanderer kamen bis vor kurzem auf dem Landweg in die EU. Seit der Ausweitung von Schutzwällen und Kontrollen verlagert sich der Migrantenstrom wieder auf den Seeweg.

Wie viele Bootsflüchtlinge insgesamt über das Mittelmeer nach Italien einreisen, ist unklar. Während die EU für das erste Halbjahr von 8400 Flüchtlingen ausgeht, die alleine in Italien und Malta angekommen sind, sprechen italienische Behörden von 22.000 Flüchtlingen, die seit Beginn des Jahres in Italien angekommen sind.

Welche Rolle spielen dabei Schlepperbanden?

Laut Frontex sinkt seit Jahren die Zahl der gefassten Schlepper, von mehr als 9000 im Jahr 2009 auf 7720 im Jahr 2012. Dabei handle es sich vor allem um EU-Bürger, die aus der Situation der Flüchtlinge Profit schlagen möchten. Sie kümmern sich nicht nur um die Weiterreise der Flüchtlinge, sondern auch um gefälschte Papiere oder dauerhafte Auslandsgenehmigungen durch organisierte Eheschließungen. Wer in Griechenland strande müsse, so Karl Kopp von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl, einen vierstelligen Betrag in die Hand nehmen, um von Schleppern in andere EU-Länder gebracht zu werden.

Wann ist die Einreise am ungefährlichsten?

Eigentlich ist der Spätsommer die optimale Überfahrtszeit. Das Mittelmeer ist dann ruhig. Hohe Wellen und Stürme sind selten. Und doch kann es auch zu dieser Jahreszeit zu solch folgenreichen Unglücksfällen kommen, wie es nun geschehen ist.

Klar ist, dass die Überfahrt per Boot in allen Fällen hohe Risiken birgt. Tagelang sind die Flüchtlinge in zumeist kleinen Booten, bei mangelhafter Ernährung und fehlenden sanitären Einrichtungen unterwegs. Laut unbestätigten Berichten war das nun verunglückte Schiff 13 Tage auf See, bis es vor Lampedusa sank.

Während ihrer Reise durch das Mittelmeer müssen die Flüchtlinge damit rechnen, auf Mitarbeiter der europäischen Grenzschutzagentur Frontex zu stoßen. Diese sind angehalten, Bootsflüchtlinge an der Einreise nach Europa zu hindern. Es sei denn, das Boot befindet sich in Seenot. Dann müssen die Insassen gerettet werden.

Was erwartet die Flüchtlinge in Europa?

Vor allem in Griechenland prangern Menschenrechtsorganisationen seit Jahren die Situation von Flüchtlingen an. "An der griechisch-türkischen Grenze finden permanent völkerrechtliche Zurückweisungen statt", berichtet Karl Kopp von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. Auch Franziska Vilmar von Amnesty Deutschland kennt die Zustände: "Flüchtlinge, die sich mit dem Boot auf den Weg nach Griechenland machen, werden teilweise von der Küstenwache misshandelt, ihre Boote zerstört und auf dem Meer zurückgelassen", sagt Vilmar. Es gebe willkürliche Inhaftierungen über Monate, außerdem deportiere man die Migranten und Asylbewerber von der Straße weg zurück in die Türkei - obwohl deren Familien in Griechenland leben und sie dort seit mehreren Jahren arbeiten.

Das Problem in Griechenland sei, so Vilmar und Kopp, dass es kein funktionierendes Asylsystem gebe. Die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Athen, Ketty Kehayioylou, spricht dagegen von einem Durchbruch: "Die Situation der Asylbewerber verändert sich. Seit Juni ist nicht mehr die Polizei für die Anträge zuständig, sondern eine öffentliche Behörde." Dennoch sieht Karl Kopp die Situation nach wie vor skeptisch: "Es funktioniert de facto noch nicht. Es gibt Gesetze, aber die kommen bei den Flüchtlingen schlichtweg noch nicht an." Nach wie vor habe man die Kapazitäten in der Bearbeitung von Asylanträgen nicht erhöht, so Kopp.

"Für die meisten Flüchtlinge gibt es keine staatliche Unterstützung", schildert die UNHCR-Sprecherin die Situation in Griechenland, "außer in wenigen Auffangstationen gibt es keine Unterkunft, keine medizinische Versorgung und kein Essen für sie." Auch in Italien sind viele Flüchtlinge ohne staatliche Hilfe größtenteils auf sich allein gestellt. "Ich kenne authentische Berichte von Menschen, die im Winter in Italien auf U-Bahn-Schächten schlafen, um nicht zu erfrieren", sagt Franziska Vilmar. Und diejenigen, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten wollen, werden nach einem Amnesty-Bericht vom Dezember 2012 oftmals ausgebeutet oder überhaupt nicht bezahlt.

Wohin gehen die Flüchtlinge danach?

Aufgrund solcher Schwierigkeiten und der ökonomischen Lage wollen viele Flüchtlinge nicht in den Ankunftsländern bleiben. Laut Frontex ist vor allem Nordeuropa und insbesondere Schweden bei den Einwanderern beliebt. Im Jahr 2012 seien in den fünf nordeuropäischen Staaten 62.900 Asylanfragen gestellt worden, 70 Prozent davon entfielen auf Schweden.

Welche legalen Möglichkeiten zur Weiterreise haben die Menschen?

"Wir haben die Erfahrung gemacht, dass nur wenige Menschen hier bleiben möchten. Aber sie fühlen sich gefangen, da es keinen legalen Weg gibt, in andere Länder zu gehen", sagt Ketty Kehayioylou vom UN-Flüchtlingshilfswerk. Zwar hätten einige wenige, schildert Karl Kopp von der Asylvereinigung Pro Asyl, auf dem Papier Möglichkeiten - doch diese Fälle seien in der Praxis kaum umsetzbar. So haben etwa Minderjährige einen Rechtsanspruch, zu ihrer Familie zu kommen, wenn diese bereits in der EU lebt. Wer eine Anerkennung als Flüchtling oder auf einen besonderen humanitären Status erhält, darf danach für drei Monate innerhalb des Schengenraums reisen wie ein Tourist. Nach dem Ablauf der Frist muss er jedoch offiziell zurück in das Land, in dem er als Flüchtling registriert wurde. "Es war nie wirklich schön und einfach im Asylbereich", sagt Karl Kopp, "aber dass so viele auf der Flucht traumatisierte Menschen auftauchen, ist eine Steigerungsform der letzten Jahre."

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