Lampedusa nach dem Flüchtlingsdrama:Das Ende von Europa

Hundreds Of African Migrants Feared Dead Off The Coastline Of Lampedusa

Grab eines namenlosen Flüchtlings auf dem Friedhof von Lampedusa

(Foto: Getty Images)

Eine wütende Bürgermeisterin, trauernde Flüchtlinge und eine Horde von Reportern: Wer die Insel Lampedusa in diesen Tagen besucht, erlebt Menschen zwischen Schockstarre und Überforderung.

Von Alex Rühle, Lampedusa

Direkt vor Lampedusa ist am vergangenen Donnerstag ein Flüchtlingsschiff mit über 500 Menschen an Bord untergegangen. Bisher wurden 250 Tote geborgen, und noch immer sind die Taucher am Wrack. Eindrücke von einer Insel im Ausnahmezustand.

Europa

An der Punta Maluk, dem südlichsten Punkt der Insel, so nah am Hafen, dass man die Schiffsgeräusche von dort hört, steht die Porta d'Europa, ein Kunstwerk aus dem Jahr 2008. Das Tor nach Europa. Momentan kann man durch dieses Tor hindurch die Schiffe sehen, die an der Unglücksstelle ankern, um die Toten aus dem Schiffsrumpf zu holen, vor allem Frauen und Kinder. Ina Andriani, eine Anwältin, die seit zehn Jahren auf der Insel lebt, schaut den Schiffen bei der Arbeit zu, dann sagt sie: "Wir sollten das Tor mit Ziegeln auffüllen und Mauer von Europa nennen." Bisher wurden 250 Leichen geborgen. Die Taucher sagen, es lägen noch immer "ganze Menschenstapel" im Wrack.

Hilfe

Als sich für diesen Mittwoch der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso zusammen mit dem italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta ankündigte, sagte Giusi Nicolini, die streitbare Bürgermeisterin des Ortes: "Wenn die beiden nur für einen symbolischen Kondolenzbesuch kommen wollen, können sie stattdessen auch eine Mail schreiben. Was wir brauchen, sind konkrete Zusagen und Hilfsmaßnahmen."

Das stimmt: Die Zustände im Auffanglager haben sich noch mal verschlechtert. Es regnet seit Sonntagmorgen. Die meisten der momentan mehr als 1000 Flüchtlinge lagern ja draußen, auf einfachen Schaumstoffmatten, schließlich gibt es hier nur Platz für 300 Menschen. In den Regennächten haben die Leute in Bussen, Toiletten, der Eingangshalle Schutz gesucht, die Matratzen und all ihre Habseligkeiten sind jetzt aber durchnässt. Erzürnt, übermüdet, durchfroren haben einige Männer am Dienstagmorgen ihre Matten über den Zaun geworfen.

Schutz für afrikanische Flora und Fauna - aber nicht für Menschen

Auch sonst ist die Insel völlig überfordert. Die aus dem Wrack geborgenen Leichen werden in zwei Kühlwägen vom Hafen zum Flughafenhangar gebracht. In dem einen Wagen werden für gewöhnlich Würste transportiert, der andere stammt von einer Käsefirma.

Was jedoch die Symbolpolitik angeht, so hat Enrico Letta angekündigt, den toten Migranten im Nachhinein die italienische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Gleichzeitig wurden aber gegen jeden einzelnen der 155 Überlebenden von der Staatsanwaltschaft in Agrigento Ermittlungen wegen Verstoßes gegen das geltende Migrationsgesetz eingeleitet.

Idylle

Elena Prazzi und ihre Kollegen waren am vergangenen Donnerstag am wunderschönen Sandstrand von Conigli, als erste Fotos angeschwemmt wurden. Bilder, auf denen jungen Schwarze zu sehen sind, die sich für die Aufnahmen chic gemacht hatten. Auf einigen steht "Good Luck" oder "Love". Familienfotos. Ein Vater mit Baby auf dem Arm, ein Paar, das vor einer Fototapete die Köpfe aneinanderschmiegt. Die Fototapete zeigt einen weißen Sandstrand, ganz ähnlich dem, an dem das wellige Foto jetzt angeschwemmt wurde.

Zwei Tage später sitzt Elena Prazzi in ihrem Büro und breitet immer mehr dieser feuchten, welligen Bilder aus, es sind sicher zweihundert. Außerdem Adressbücher, ein Armband, einen Briefumschlag. Prazzi arbeitet im Naturreservat Lampedusa, das 1995 eingerichtet wurde. "Geologisch gesehen gehört Lampedusa zu Afrika", sagt Prazzi. "Wir sind ja näher an Tunesien als an Sizilien. Weshalb das auch der einzige Ort in Europa ist, an dem einige Schlangen und Blumen leben, die man sonst nur im Maghreb findet."

Schon imponierend. Von EU-Geldern wird ein Naturreservat bezahlt, weil hier die afrikanische Centaurea acaulis blüht. Wenn aber die zugehörigen Menschen hierher kommen wollen, müssen sie sich mafiösen Schleuserbanden anvertrauen und 1800 Euro zahlen, um auf ein Boot zu steigen, das dann einen Kilometer vor dem Schutzgebiet untergeht. Am Postkartenstrand werden immer noch Fotos, Jacken und Kinderschuhe angeschwemmt.

Meute

Als Journalist überkommt einen in diesen Tagen immer wieder Zunftscham. Wie ein Rudel Hyänen ist die Weltpresse auf der winzigen Insel eingefallen, wie ein Rudel lungern sie stets da, wo sie gerade auf fette Beute hoffen. Am Sonntag stehen Fotografen und Kameramänner am Hafen herum und richten ihre Objektive auf die Mole gegenüber, wo immer neue Tote von den Schiffen der Küstenwache in die Kühlwägen verladen werden. Als einige der Journalisten über die europäische Flüchtlingspolitik reden, sagt ein französischer Fotograf: "I don't give a fuck about Bossi, Eritrea, the EU and all that. All I want is a good shot of dead bodies." Alles was ich will, sind gute Bilder von toten Körpern.

Würdige Gräber als Ausnahme

Ein Rai-Reporter, der auf Sizilien viel über Schlepperbanden recherchiert hat, sagt vor dem Eingang des Flüchtlingslagers: "90 Prozent von dem, was mir Flüchtlinge in Sizilien so erzählen, darf ich nicht senden." - "Warum denn nicht?" - "Ich bin beim Staatsrundfunk. Die Leute erzählen unglaubliche Sachen über Misshandlungen durch Polizisten. Ich glaub' ihnen, aber das darf nicht über den Sender des staatlichen Rundfunks gehen."

Schreie

Am Samstag dürfen die Journalisten in den Hangar, in dem die 111 bis dahin geborgenen Leichen in drei Reihen aufgebahrt sind. 111. Eine schmale Zahl. Wie lang dagegen die Reihen der namenlosen, durchnummerierten Särge sind. Auf dem Rückweg ins Dorf begegnen die Journalisten kleinen Gruppen von Eritreern, die jetzt in den Flughafen kommen sollen, um eventuelle Angehörige zu identifizieren. Kurz darauf, die Journalisten sind längst am Flughafengelände vorbei, sind aus dem fernen Hangar entsetzliche Schreie zu hören.

Massengrab

Von der Politik wird jetzt gern das Bild vom "Friedhof" bemüht. Aber ist ein Friedhof nicht ein Ort, an dem die Toten ihre würdigen Gräber bekommen, auf dass man ihrer dort gedenken kann? Wenn man schon Metaphern benutzen will, dann ist das Mittelmeer das größte Massengrab Europas. Man kennt keine genauen Zahlen, aber 1000 Menschen sind es auf jeden Fall, die hier jedes Jahr ertrinken, erfrieren, verdursten. Und würdige Ruhe finden sie nicht im Wasser: Die Toten, die aus dem Wrack gezogen werden, sind mittlerweile allesamt von Fischen angefressen. Die Psychologen, die aus Malta eingeflogen wurden, um die Taucher zu betreuen, sagen, die seelische Belastung werde mit jedem Tag größer; die Leichen sähen mittlerweile einfach furchtbar aus.

Friedhof

Auf dem Friedhof von Lampedusa gibt es ein kleines Grab, links hinten, in der letzten Reihe, das kein Kreuz schmückt, auf dessen schlichtem Denkstein aber eine Geschichte steht: Ester Ada stieg im April 2009 auf eines der völlig überladenen Schmugglerboote. Das Schiff havarierte und trieb tagelang im Meer umher, die schwangere Ada starb. Als der türkische Frachter Pinar die 153 Migranten auflas, ließ der Kapitän auch die Tote an Bord holen. Als er dann das nahegelegene Lampedusa ansteuern wollte, kam der Befehl der italienischen Wasserwacht, nach Malta abzudrehen. Dort weigerte man sich ebenfalls, den Frachter einlaufen zu lassen. Es dauerte vier Tage, bis der Kapitän die Erlaubnis erhielt, Lampedusa anzulaufen. Der Text auf dem Grabstein endet mit den Worten: "Hier ruht Ester Ada, 17 Jahre, geboren in Nigeria am 11. Mai 1991."

Schweigen

Giusi Nicolini legt sich momentan bei allen Pressekonferenzen eine Schärpe in den Farben der Trikolore um: Seht her, soll das heißen, wir gehören zu Italien; das sind auch eure Flüchtlinge. Im November 2012, vor der Küste ihrer Insel waren gerade wieder fünf Menschen gestorben, schrieb sie in einem Brief an die EU: "Wenn Europa so tut, als seien dies nur unsere Toten, dann möchte ich für jeden Ertrunkenen, der mir übergeben wird, ein offizielles Beileidstelegramm erhalten. So als hätte er eine weiße Haut, als sei es unser Sohn, der in den Ferien ertrunken ist."

Auf den Brief hat Nicolini nie eine Antwort bekommen.

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