Entführung von Libyens Premier Seidan:Verschleppt im Land der Gesetzeslosigkeit

Ali Zidan

Ali Seidan auf einem Archivbild vom 8. Oktober

(Foto: AP)

Morgens gekidnappt, mittags wieder frei: Die Entführung von Premier Seidan offenbart, wie prekär die Sicherheitslage in Libyen ist. Die Regierung bringt Milizen und Al-Qaida-Sympathisanten nicht unter Kontrolle und muss zusehen, wie ihr Land zur Drehscheibe des Waffenschmuggels wird.

Von Matthias Kolb

Am Ende ging es doch noch glimpflich aus: Er sei wohlauf, sagte Libyens Premier Ali Seidan nach seiner mehrstündigen Verschleppung, die weltweit für Aufsehen sorgte. Die Entführer hätten ihn mit dieser Aktion zum Rücktritt zwingen wollen, erklärte der 62-Jährige in Tripolis, doch er werde weiter machen. Wer ist dieser Ali Seidan, wer hat ihn verschleppt, welche Rolle spielen die Milizen in Libyen und wie ist die Lage im Land - zwei Jahre nach dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi? Ein Überblick.

Wer hatte Libyens Premier Ali Seidan in Tripolis entführt?

Eine frühere Rebellenmiliz hat sich dazu bekannt, Seidan entführt und für mehrere Stunden festgesetzt zu haben. Die ehemaligen Aufständischen sollen eigentlich im Auftrag des Innenministeriums für Sicherheit in der Hauptstadt sorgen. Sie begründeten ihre Tat damit, dass die libysche Regierung die Festnahme des Al-Qaida-Anführers Abu Anas al-Libi durch ein US-Sonderkommando gebilligt habe - und damit eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes erlaubt habe. Ein Regierungssprecher hingegen versuchte, dem Eindruck entgegen zu wirken, dass der Premier nur aufgrund der Großzügigkeit der Rebellen zurückkehren konnte. Seidan sei "befreit und nicht freigelassen" worden.

Bei der Entführung im Hotel Corinthia, in dem viele Diplomaten und hohe Regierungsvertreter wohnen, fielen, Wachleuten zufolge, keine Schüsse. Der arabische TV-Sender Al-Arabija zeigte Bilder, auf denen Seidan finster blickt und von einer Gruppe Männer in Zivilkleidung umringt wird. Die Aktion, an der mehr als 100 bewaffnete Männer beteiligt waren, fand um vier Uhr morgens statt.

Die Ex-Rebellen der "Kommandozentrale der libyschen Revolutionäre" hatten erklärt, den Ministerpräsidenten "auf Anordnung der Staatsanwaltschaft festgenommen" zu haben. Dies sei gemäß dem libyschen Strafgesetz erfolgt, so die Gruppe auf ihrer Facebook-Seite. Demnach muss sich Seidan wegen "Verbrechen und Delikten zum Schaden des Staates und zum Schaden der Sicherheit des Staates" verantworten. Das Justizministerium hatte hingegen betont, es gebe keinen Haftbefehl.

Was hat es mit der US-Aktion gegen Al-Qaida-Funktionär al-Libi auf sich?

Die Verhaftung von Abu Anas al-Libi durch US-Spezialkräfte hat in Libyen für großes Aufsehen gesorgt, weil sie als Verletzung der staatlichen Souveränität angesehen wurde. Der 49-Jährige, der vor wenigen Tagen in Tripolis gefasst wurde und als Computerspezialist gilt, soll 1998 an Anschlägen auf US-Botschaften in Tansania und Kenia beteiligt gewesen sein. Al-Libi wird nun an Bord des Kriegsschiffs USS San Antonio vernommen.

Während die Regierung in Tripolis betont, sie habe keine Einwilligung zum Einsatz der Amerikaner gegeben, erklärte US-Außenminister John Kerry, dass es sehr wohl Konsultationen zwischen Washington und Tripolis gegeben habe. Diese Gespräche könnten jedoch bereits Wochen oder Monate zurück liegen - über den exakten Zeitpunkt des Einsatzes wurde Tripolis wohl nicht informiert. Für Verwirrung sorgte auch die Aussage des Chefs des Obersten Sicherheitskomitees, Hashim al-Bischr: Er sei sich "zu 100 Prozent" sicher, dass Libyer bei der Verhaftung des Al-Qaida-Führers beteiligt waren - und somit die Amerikaner unterstützt hätten.

Laut New York Times hatten die USA eigentlich noch einen weiteren Einsatz ihrer Spezialkräfte in Libyen geplant. Mit Ahmed Abu Khatalla sollte einer der mutmaßlichen Drahtzieher des Angriffs auf das US-Konsulat in Bengasi am 11. September 2012 festgesetzt werden - bei der Attacke waren US-Botschafter Christopher Stevens und drei weitere Amerikaner getötet worden. Offenbar wurde diese Aktion wegen schlechter äußerer Bedingungen abgesagt.

Wer ist Premierminister Ali Seidan?

Seidan rief nach seiner vorübergehenden Entführung zur Ruhe aufgerufen. "Ich hoffe, dass dieses Problem mit Vernunft und Besonnenheit geklärt wird", sagte der Regierungschef in einer vom Staatsfernsehen übertragenen Ansprache. Der 62-Jährige amtiert seit Mitte November 2012 als erster gewählter Premierminister Libyens. Seidan arbeitete in den siebziger Jahren als Diplomat, bevor er sich 1980 der Opposition gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi anschloss und ins Exil ging. Er verbrachte einige Zeit in Deutschland und war fast drei Jahrzehnte als Menschenrechtsanwalt in Genf tätig. Als mit dem arabischen Frühling der Aufstand gegen Gaddafi begann, wurde Seidan zum Europa-Vertreter des Nationalen Übergangsrats.

Laut Al-Dschasira spielte der 63-Jährige eine Schlüsselrolle bei dem erfolgreichen Versuch, den damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy davon zu überzeugen, die Anti-Gaddafi-Opposition zu unterstützen. Sarkozy und der Brite David Cameron warben später international für einen Luftschlag gegen das Gaddafi-Regime, dem sich im März 2011 auch die USA anschlossen. Seidans Einfluss als Premier ist jedoch eher gering: Regierung, Polizei und Militär sind im heutigen Libyen schwach.

Wie ist die Sicherheitslage in Libyen?

Es ist erst zwei Wochen her, da versprach Ali Seidan im Interview mit CNN-Journalistin Christiane Amanpour: "Libyen scheitert nicht." Er scheue sich nicht, zu sagen, dass man erst dabei sei, einen Staat wieder aufzubauen: "Gaddafi hat das Land 42 Jahre lang zerstört und der Bürgerkrieg hat das Land weiter zerstört." Es sei unmöglich, innerhalb von Wochen eine Demokratie aufzubauen, zumal es keine historischen Vorbilder gebe. Gaddafi hatte seine Diktatur offiziell als "Volksmassenrepublik" (Dschamahirija) geführt.

In einem Gespräch mit der BBC, das am Dienstag gesendet wurde, sprach Seidan ein weiteres Problem offen an: Sein Land werde als Drehscheibe für Waffenexporte missbraucht. Der Premier forderte die Weltgemeinschaft auf, dem Land zu helfen, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Gerade die Extremisten von Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM) decken sich in Libyen Berichten zufolge für Aktionen in Mali oder anderen Teilen Nordafrikas ein. Westliche Geheimdienste glauben, dass in keinem anderen Land mehr ungesicherte Waffen im Umlauf sind als in Libyen.

Premier Seidan schildert im BBC-Gespräch die Lage in drastischer Deutlichkeit: "Diese Waffen sind für jeden libyschen Bürger verfügbar, auch für junge Leute. Es gibt sie überall, in Privathäusern ebenso wie in Geschäften." Besonders besorgt sind Experten, weil mehrere Tausend schultergestützte Boden-Luft-Flugabwehrsysteme unauffindbar sind. Diese MANPADs wurden einst von Gaddafi importiert und können nicht nur gegen Hubschrauber eingesetzt werden, sondern auch zum Abschuss von Passagierflugzeugen. Recherchen des Senders CBS zeigen, dass die USA versuchten, diese Waffen mithilfe von südafrikanischen Söldnern sicherzustellen - allerdings ohne substanziellen Erfolg.

Welche Rolle spielen Milizen in Libyen?

Internationale Medien berichten in der Regel nur über spektakuläre Fälle wie die Flucht von 1000 Häftlingen aus einem Gefängnis nahe Bengasi im Juli. Doch Anschläge, Entführungen, Erpressungen und Schießereien gehören in Libyen zum Alltag. Da Polizei und Armee schlecht bezahlt und ausgerüstet sind, spielen bewaffnete Milizen eine beängstigend große Rolle. Human Rights Watch zufolge ist es seit Gaddafis Sturz keiner Regierung gelungen, die Milizen wirkungsvoll zu kontrollieren - sie heuern die Milizen stattdessen wie Söldner an, damit diese parallel zu Armee und Polizei tätig werden. Dies soll auch der Wiedereingliederung dienen.

Viele der ehemaligen Rebellen haben unterschiedliche Prioritäten und Interessen: Einige seien religiös motiviert, andere dienten politischen Akteuren als Instrument oder würden schlicht als Dienstleister eingesetzt, um etwa auf den libyschen Ölfelder für Sicherheit zu sorgen. Hier kämpfen rivalisierende Stämme radikaler Islamisten um die Kontrolle über die lukrativen Rohstoffe.

Die Sicherheitslage erschwert auch die Aufarbeitung der Gaddafi-Zeit: In dem "Klima der Gesetzlosigkeit", von dem Amnesty International spricht, ist es nahezu unmöglich, ehemaligen Gaddafi-Anhängern einen fairen Prozess zu garantieren. So wird etwa Saif al-Islam al-Gaddafi, der zweitälteste Sohn des Ex-Machthabers, von Milizen in der Nähe von Bengasi festgehalten, obwohl er in der Hauptstadt Tripolis angeklagt ist.

In dieser prekären Situation fällt es dem Post-Gaddafi-Libyen auch schwer, die eigenen Grenzen des riesigen Landes zu sichern - dies gilt vor allem für die Wüstengebiete im Süden. Die ständige Unsicherheit schreckt auch jene ausländischen Investoren ab, deren Geld das nordafrikanische Land dringend bräuchte, um sich zu entwickeln - und um den eigenen Bürgern zu beweisen, dass das Leben nach dem Bürgerkrieg und dem Sturz Gaddafis besser wird.

Dass nun ausgerechnet Berichte über die Entführung des Premierministers Libyen wieder in die Schlagzeilen zurück gebracht haben, wird dem Image des Landes nicht helfen, mutmaßen Beobachter. Womöglich erinnern die Bilder jedoch die Politiker in der EU, den USA und den Golfstaaten daran, dass es sich rächen könnte, Libyen weiterhin seinem Schicksal zu überlassen.

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