50. Jahrestag des Grubenunglücks von Lengede:Hört, ein Wunder

Kurz vor Feierabend bricht die Hölle los: Millionen Liter Schlammwasser strömen am 24. Oktober 1963 in die Eisenerzgrube bei Lengede, in der sich 129 Bergleute aufhalten. Es beginnt eine der spektakulärsten Rettungsaktionen der deutschen Geschichte. Sie endet mit dem Unglaublichen.

Von Pascal Paukner

Die Liste mit den Totgesagten hängt schon am Zechentor, da hat gerade erst der Samstagnachmittag begonnen, es ist der zweite Tag nach dem Grubenunglück. 39 Männer, so ist es der Bekanntmachung zu entnehmen, haben ihr Leben verloren, als am 24. Oktober 1963 der Klärteich Nummer 12 der Eisenerzgrube Lengede-Broistedt einstürzte. Die Fahne auf dem Förderturm des Schachtes "Mathilde" ist auf Halbmast gehisst. Das Grubenunglück von Lengede, so scheint es, hat in einer Katastrophe geendet.

500 Millionen Liter Schlamm und Wasser brechen am Donnerstagabend kurz nach 20 Uhr in das Bergwerk ein. Zu einem Zeitpunkt, als sich 129 Kumpel auf dem Schacht befinden. 79 können sich unmittelbar nach dem Unglück in Sicherheit bringen. 50 Bergleute gelten in der Nacht nach dem Unglück als vermisst, ihre Überlebenschancen als gering. Obwohl noch am Freitag bei einer Suchbohrung sieben vermisste Kumpel gerettet werden, obwohl vier weitere Männer in einer Luftblase vermutet werden, scheint es spätestens am Samstagnachmittag so, als habe der Grubenunfall in Lengede ein katastrophales Ende genommen.

Schwere Bergwerksunglücke vor Lengede

Deutschland hat in seiner Geschichte zahlreiche schwere Grubenunglücke erlebt: 1946 kommt es in einem Steinkohlebergwerk bei Bergkamen im Ruhrgebiet zum schlimmste Grubenunglück der deutschen Geschichte. Als Folge einer Explosion, deren genaue Ursache bis heute ungeklärt ist, lassen 405 Menschen ihr Leben im Berg. Nur vier Jahre später kommt es auf der Zeche Dahlbusch in Gelsenkirchen-Rotthausen zu einer Schlagwetterexplosion mit 78 Toten. 1962 kommen in der Grube Luisenthal im Saarland nach einer Explosion 299 Menschen ums Leben.

Hätten die Bergungstrupps an jenem Samstag ihre Suche eingestellt, würden sich heute, 50 Jahre später, wohl nur noch wenige Menschen an Lengede erinnern. In der deutschen Geschichte hatte es zuvor schon Dutzende Grubenunglücke gegeben. Der Rohstoffabbau stellt für die aufstrebende Industrienation eine wichtige Wirtschaftsgrundlage dar. Allein 60 Bergwerke, in denen Eisenerz abgebaut wird, gibt es damals. Nicht selten enden Unfälle unter Tage mit vielen Toten.

Retter lassen Mikrofone in die Grube hinab

Dass Lengede, obwohl dort weit weniger Menschen sterben, Teil des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen ist, liegt daran, dass die Geschehnisse am Samstagnachmittag, zwei Tage nach der Katastrophe nicht zu Ende sind. An diesem Tag endet das Unglück von Lengede. Doch das Wunder von Lengede beginnt erst.

Obwohl niemand weiß, welche Katastrophen sich dort auf den Schächten unter der niedersächsischen 3700-Einwohner-Gemeinde abspielen, arbeiten die Hilfskräfte in den kommenden Tagen weiter. Stundenlang wird gebohrt. Stoßen die Rettungskräfte auf Hohlräume, lassen sie hochsensible Mikrofone in die Erde hinab und hören doch "nur das eintönige Geräusch tropfenden Wassers", wie der Spiegel damals schreibt. Von den vermissten Kumpeln fehlt tagelang jedes Lebenszeichen.

Erst acht Tage nach dem Unglück, am 1. November, werden drei der vier in einer Luftblase vermuteten Kumpel geborgen. Eine tagelang vorbereitete Bohrung dringt in den frühen Morgenstunden zu den Vermissten vor. Mithilfe einer torpedoförmigen Rettungskapsel, der sogenannten Dahlbuschbombe (siehe Infotext), gelangen die Bergleute wenige Stunden später an die Erdoberfläche - nach 190 Stunden im Berg. Das Wunder von Lengede hat begonnen. Doch welche Ausmaße es annehmen wird, ahnt niemand.

Rettung mit der Dahlbuschbombe

Die Dahlbuschbombe, eine 2,5 Meter lange und 38,5 Zentimeter breite, torpedoförmige Rettungskapsel, war 1955 beim Grubenunglück auf der Zeche Dahlbusch in Gelsenkirchen-Rotthausen entwickelt worden. In Lengede kam die Technik erstmals bei einer Rettung von Übertage zum Einsatz. Auf der Zeche Dahlbusch war die Dahlbuschbombe nur innerhalb des Bergwerks eingesetzt worden. Die Technik hat sich nach Lengede weiter verbreitet und wird auch heute noch in anderen Designs eingesetzt.

Während die Trauerfeier vorbereitet wird, bohren sie weiter

Überlebende, die an den Tod ihrer Kameraden nicht glauben wollen, mutmaßen, dass es, obwohl weite Teile der Grube unter Wasser stehen, noch Überlebende geben könnte. Ihre Vermutung: Auf der Flucht vor den eindringenden Wasserfluten könnten einige Kumpel in das Bruchfeld des Bergbaus geflüchtet sein. Jenen Bereich also, der von Bergarbeitern Alter Mann genannt wird. Jenen Bereich, der von Menschen nicht betreten werden sollte, weil dort das Erz längst abgebaut ist, die Kammern instabil sind, Einsturz- und Lebensgefahr droht.

Obwohl es aussichtslos erscheint, lässt sich die Bergwerksleitung zu einer weiteren Suchbohrung überreden. Zu einem Zeitpunkt, zu dem anderswo in Lengede bereits die Trauerfeier für die Totgesagten vorbereitet wird, zu dem die Totenglocken bereits geläutet haben, zu dem die Totenanzeigen gesetzt werden. Es ist die Bohrung, die den Durchbruch bedeuten wird. Am 3. November, einem Sonntagmorgen, um kurz vor sieben Uhr machen sich die elf noch lebenden Eingeschlossenen mittels Klopfgeräuschen an dem hinabgelassenen Bohrer bemerkbar. Es ist ein Lebenszeichen. 227 Stunden, nachdem der Klärteich eingestürzt ist, gibt es elf Kumpel die zwar verzweifelt, ausgehungert und teilweise verletzt, aber am Leben sind.

Grubenunglück von Lengede 1963

Helfer tragen einen der befreiten Bergleute nach 14 Tagen im Berg ins Freie

(Foto: dpa)
Sicherheit des Untertagebaus heute

Könnte sich eine Tragödie wie in Lengede wieder ereignen? Wolfgang Roehl, Leiter des Grubenrettungswesens bei der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie, hält das für unwahrscheinlich. "Heutzutage stehen umfangreiche Untersuchungsmethoden zur Erkundung von Lagerstätten und des umgebenden Areals zur Verfügung", sagt Roehl. Selbst bei geologischen Anomalien oder nicht erkennbaren Problemzonen könne das Risiko durch Vorerkundungsmaßnahmen reduziert werden.

Die Rettungsleitung setzt nun alles in Bewegung: Europas größtes fahrbahres Bohrgerät, ein 100 Tonnen schwerer Koloss, wird herangekarrt. Aus Oberhausen wird ein nagelneuer Pressluft-Kompressor unter Blaulichteinsatz nach Lengede transportiert. Bundeskanzler Ludwig Erhard fliegt mit dem Hubschrauber ein und spricht den Eingeschlossenen über ein Mikrofon Mut zu. Am 7. November schließlich gelingt nach ausführlicher und tagelanger Planung, was viele in dem einsturzgefährdeden Gestein für unmöglich gehalten haben: Die Bohrer haben sich so präzise in den zerfallenden Bergbau hineingegraben, dass um 13.10 Uhr ein Steiger in einer Dahlbuschbombe hinabgelassen werden kann, um die Eingeschlossenen zu befreien. Im Abstand von fünf Minuten werden die Überlebenden nun ans Tageslicht gebracht. Das Wunder ist vollbracht - und wird in die ganze Welt gesendet.

449 Journalisten sind nach Lengede gekommen. Fernsehen und Radio berichten in Liveschaltungen vom Unglücksort. Die Bild-Zeitung druckt eine Sonderausgabe für die Verschütteten, die nur gute Nachrichten enthält. Es ist eines der ersten Ereignisse der noch jungen Bundesrepublik, das vollumfänglich und weltweit massenmedial dokumentiert und verbreitet wird. Die Geschichte wird zum Mythos, auch weil sie in diese an deutschen Heldengeschichten arme Zeit so gut passt: Kameradschaft, Präzision, Fortune, daraus speist sich die Geschichte. In riesigen Buchstaben produziert die Bild-Zeitung Titel wie: "Gott hat mitgeholfen".

Bergbau verschwindet aus Deutschland

Der Eisenerzabbau, der einmal zu den bedeutendsten Bergbauzweige in Deutschland zählte, ist aus der Industrienation Deutschland verschwunden. In den 1950er und 1960er Jahren gab es in Deutschland 60 Eisenerzgruben, heute ist noch eine übrig. Bergbau in den Tiefen der Erde findet hierzulande heute vor allem noch beim Kali- und Steinsalzabbau sowie bei der Steinkohle statt. Dieser Strukturwandel macht auch vor Lengede-Broistedt nicht halt. Das Bergwerk wird 1977 geschlossen. Die Anlage gilt bis zu ihrer Schließung als modernste und sicherste in ganz Europa. Trotz umfangreicher Ermittlungen wird nie jemand für den Unfall verurteilt.

Viermal wird das Wunder von Lengede in den folgenden Jahrzehnten für das deutsche Fernsehen verfilmt. 2003 widmet Sat.1 dem Drama einen aufsehenerregenden Zweiteiler, der vier Grimme-Preise abräumt. Auch fünfzig Jahre nach dem Unglück ist das Interesse groß. Wenn es wie 2010 in Chile zu vergleichbaren Katastrophen kommt, dann ist hierzulande auch stets wieder von Lengede die Rede. Die Wundergeschichte aus Niedersachsen, das zeigt sich dann, ist auch die Erinnerung an ein Deutschland, das es nun nicht mehr gibt.

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