Deutsche Spionageabwehr:Überfordert oder vorsätzlich ahnungslos

Amerikanische und britische Agenten können in Deutschland fast ungestört wirken. Verfassungsschutz und BND halten sie für vertrauenswürdige Partner. Über die erstaunlichen Freundschaftsdienste der deutschen Geheimdienste.

Von John Goetz, Klaus Ott, Hans Leyendecker und Frederik Obermaier

Manchmal hilft es ja, wenn man sich an Tabellen halten kann. Zahlen können die Welt begreifbar machen - auch die Welt der Spione und ihrer Gegner. Beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das für die Spionageabwehr in Deutschland zuständig ist, weist der "interne Stellenplan 2013" in den Bereichen Spionageabwehr, Proliferationsabwehr und Wirtschaftsschutz 149,02 Stellen auf. Bis 1990 bestand die Spionageabwehr des BfV aus vier Referaten. Heute sind es nur noch zwei. Beim Bundesnachrichtendienst (BND), der rund 6500 Mitarbeiter hat, kümmern sich um die alte klassische Spionageabwehr nur zwölf Nachrichtendienstler. Alles in allem nicht sehr viel.

Und wenn es um befreundete Nachrichtendienste geht, gelten in der Theorie zwar dieselben Regeln wie bei den fremden Diensten, aber die Praxis ist anders. Das BfV zum Beispiel legt schon prinzipiell Wert darauf, keine Gegenoperationen bei befreundeten Diensten wie NSA, CIA oder den britischen GCHQ durchzuführen. Das heißt, trotz Verdachts darf dort keine eigene Quelle eingeschleust werden. Dafür sei, so das BfV, wenn überhaupt, der Bundesnachrichtendienst zuständig. Aber auch der befasst sich damit nicht.

Wenn man darüber rätselt, warum das Handy der Kanzlerin vermutlich abgehört wurde - ohne dass jemand von der deutschen Spionageabwehr Wind davon bekam - oder warum vermutlich in der britischen und der amerikanischen Botschaft unentdeckt Horchposten eingerichtet werden konnten, sollte man nicht nur auf die mickrigen Zahlen der deutschen Spionageabwehr schauen. Auf die Gefahren-Philosophie kommt es an. Erster Leitsatz: Alliierte Partnerdienste sind verlässliche Freunde. Zweiter Leitsatz: Die Zusammenarbeit ist eng und vertrauensvoll. Dritter Leitsatz: Partner sind keine Gegner - was sie treiben, ist tabu.

Gefährlich sind russische, chinesische und sonstige Agenten: "Es gibt in den USA Kontrollmechanismen, anders als in China und Russland", erklärte BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen am 17. Oktober in einem Gespräch mit der SZ über Wirtschaftsspionage und die NSA-Ausspähaffäre. "Wir haben die Sorge", fügte er hinzu, "dass es noch andere Snowdens geben könnte, die nach Russland oder China gegangen sind, um dort ihr Wissen zu verkaufen".

Wenn man bösartig wäre, könnte man zu dem Schluss kommen, der Präsident bedauere, dass deutsche Bürger dank der Aufklärung durch den Whistleblower Edward Snowden jetzt wissen, in welchem Umfang sie von amerikanischen oder britischen Diensten ausgespäht werden. Das hätte man eigentlich lieber von den eigenen Nachrichtendienstlern erfahren.

Die deutsche Spionageabwehr ist, wenn es um Ausspähungen durch befreundete Dienste geht, nicht einmal bedingt abwehrbereit. Sie wirkt in diesen Fällen überfordert oder vorsätzlich ahnungslos. Das beginnt schon beim Grundsätzlichen: Geheimpersonal befreundeter Staaten wird akkreditiert und arbeitet an Botschaften und Konsulaten. Aber wie viele Agenten sich wirklich in Deutschland aufhalten, ist den Verfassungsschützern nicht bekannt.

Und was ist mit den etwa 400 Leihagenten der Amerikaner, die in Deutschland für US-Dienste vor allem hacken, spähen, forschen? Sie sind mit Sicherheit nicht als Agenten akkreditiert. Kümmert das die Abwehr? Und was hat es mit der angeblichen Wirtschaftsspionage durch US-Dienste auf sich? Achselzucken.

Natürlich müssen deutsche Nachrichtendienste russische, chinesische, iranische, syrische Agenten oder Beschaffer besonders streng im Blick haben. Und Partner sind Partner. Aber keine Freunde, weil es in diesem Metier keine Freunde gibt, sondern nur Interessen.

Deutsche Spionageabwehr: Mutmaßliches Abhörnest in der US-Botschaft vor dem Bundestag

Mutmaßliches Abhörnest in der US-Botschaft vor dem Bundestag

(Foto: AFP)

Was die deutschen Dienste wirklich interessiert, sind die "Fremden Dienste", die in Deutschland herumspionieren und intern "Angreifer" genannt werden. Jedes Jahr befragen die deutschen Spionageabwehrer mehrere Hundert Menschen mit Kontakt zu ausländischen Nachrichtendiensten, um zu erfahren, was die so wissen. Knapp sechzig Ermittlungsverfahren wurden zwischen 2009 und 2012 auf den Weg gebracht. Agenten befreundeter Dienste waren freilich nicht darunter. Die Aktivitäten der Partnerdienste werden von den Verfassungsschutzbehörden nicht systematisch erfasst. Wenn ein Agent eines befreundeten Dienstes in Deutschland "operativ tätig wurde, ohne das mit uns abzustimmen", sagt ein hochrangiger Nachrichtendienstler, "dann bestellen wir den ein, und dann ist Ruhe". Da müssen die Merkel-Abhörer etwas gründlich missverstanden haben.

Es ist in der Branche üblich, dass Agenten, die akkreditiert und dann aufgefallen sind, abgeschoben werden. Vertraulich natürlich. Das Verfahren nennt man in der Branche "Stille Ausweisung". Auch da gibt es Klassenunterschiede.

In den vergangenen vier Jahren wurden einige Agenten zur Ausreise gedrängt: 2009 reiste ein Nachrichtendienstler aus, der am chinesischen Generalkonsulat in München eingesetzt war. 2010 musste ein Mitglied des südkoreanischen Sicherheitsdienstes NIS gehen, der in Berlin akkreditiert war. 2011 traf es zwei Geheimdienstler, die an der russischen Botschaft gearbeitet hatten. 2012 gab es die stille Ausweisung eines an der russischen Botschaft eingesetzten Offiziers, weil er heimlich versucht haben soll, trotz Ausfuhrverbots militärisch nutzbares Material zu beschaffen. Amerikanische oder britische Agenten fallen so gut wie nie auf. Die letzte stille Ausweisung von US-Agenten in Deutschland liegt 14 Jahre zurück.

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