Alice Munro:Menschen haben solche Gedanken

Schriftstellerin Alice Munro

Dass eine Situation und das innere Erleben auseinanderklaffen könnne, aus dieser Erfahrung hat Alice Munro ein Werk geschaffen, für das sie schon lange bewundert wird.

(Foto: dpa)

Ihr neuer Erzählungsband "Liebes Leben" zeigt Alice Munro auf der Höhe ihres Könnens. Kunstvoll verdichtet die Kanadierin die Fülle des Lebens - der Nobelpreis für Literatur geht an eine Meisterin der kleinen Form.

Von Meike Fessmann

Sie war noch nicht erwachsen, da wurde sie zur "Dolmetscherin" ihrer früh an Parkinson erkrankten Mutter, und dieses Sprechen im Namen einer anderen war manchmal eine Qual. Und doch waren die Jahre, in denen es mit der Farm, auf der ihr Vater Silberfüchse und Nerze züchtete, immer weiter bergab ging und das Leben der fünfköpfigen Familie von der Krankheit der Mutter überschattet wurde, keine unglückliche Zeit. So beschreibt es Alice Munro in einer der vier autobiografischen Geschichten, die als "Finale" ihren neuen Erzählungsband "Liebes Leben" abschließen.

Dass eine Situation und das innere Erleben weit auseinanderklaffen können, ist nur eine der vielen Beobachtungen, aus denen die 1931 in Ontario geborene Schriftstellerin ein Werk geschaffen hat, das ihre Leser und Kollegen seit vielen Jahren bewundern und für das sie nun endlich mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird.

Sie selbst konnte bei der Preisverleihung am Dienstag in Stockholm aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend sein. Eine ihrer drei Töchter nahm den Preis aus den Händen des schwedischen Königs entgegen. Das wirkt beinahe wie die Vorlage für eine nächste Geschichte, auch wenn sie wieder einmal erklärt hat, ihr neuester Erzählungsband sei nun endgültig der letzte. In den vierzehn Geschichten ihres nunmehr dreizehnten Bandes, der vor einem Jahr unter dem Titel "Dear Life" erschienen ist und pünktlich zur Preisverleihung aus der Feder ihrer bewährten Übersetzerin Heidi Zerning auf Deutsch vorliegt, ist sie ganz auf der Höhe ihrer Kunst. Ihre Geschichten sind immer dann am besten, wenn sie einen ganzen Lebensbogen spannen, prägende Details herausgreifend, in denen sich die Fülle eines Lebens zur Essenz verdichtet.

Eine junge Frau reist während des Kriegs als Lehrerin in ein Sanatorium für tuberkulosekranke Kinder mitten hinein in eine Szenerie, die an russische Romane und Thomas Manns "Zauberberg" erinnert. Obwohl er ihr beim Einstellungsgespräch Fragen wie "Fallen" stellte, beginnt sie ein Verhältnis mit dem leitenden Chirurgen. Heimlich wollen sie heiraten. Im Auto geht es zum Standesamt, irgendwo in den Bergen. Plötzlich biegt er auf den Parkplatz einer Eisenwarenhandlung ein und eröffnet ihr, dass er es sich anders überlegt hat. Seine Ausführungen werden unterbrochen. Ein Lkw-Fahrer, offenbar der Besitzer des Ladens, fordert sie auf wegzufahren. "Wir sind schon weg", antwortet er. Für einen kurzen Augenblick klammert sie sich an das Wörtchen "Wir". Dabei kommt es doch auf das Wort gar nicht an.

Denn der "Mann-zu-Mann-Ton zu dem Fahrer" hat ihr bereits die Wahrheit verraten. Sie ist schlimmer als die Erklärung zuvor, die immerhin seinen "Schmerz" erkennen ließ. "Ganz egal, was er sagte und meinte, er sprach in jenen Minuten aus demselben innersten Ort heraus, aus dem er gesprochen hatte, als er mit mir im Bett war. Aber jetzt, nachdem er mit einem anderen Mann gesprochen hat, ist es nicht mehr so." Jahre später treffen sie sich in Toronto zufällig wieder. "Wir starrten uns gleichzeitig an, mit nacktem Schock auf unseren von der Zeit beschädigten Gesichtern." Es scheint so, als könnten sie immer noch zusammenfinden. Doch nichts geschieht. Nur ein kurzes Aufblitzen in seinem linken Auge, "immer das linke, erinnerte ich mich". Mit solch kleinen Details kann Alice Munro intime Vertrautheit darstellen. Und manchmal schiebt sie noch eine Lebensweisheit hinterher, die einer Geschichte ihren Rahmen gibt: "An Liebe ändert sich nie etwas."

Distanz innig verbunden mit innerer Nähe

Verschlungen sind die Pfade, auf denen sie ihre Figuren führt, oft spielen ihre Geschichten in Kleinstädten, dort, wo man sich kennt, was manchmal von Nutzen ist. So geht es dem Helden einer Erzählung, der seiner Hasenscharte wegen froh ist, dass sich die Leute an sein Gesicht gewöhnt haben. Und doch ist er zu stolz, das Angebot einer Bekannten, die leichtsinnig ihr Elternhaus verkauft hat, anzunehmen, zu ihm in sein Haus zu ziehen. Aus lauter Sorge, sie könne ihn doch noch überreden, verkauft er das eigene Haus, in dem er mit seiner Mutter bis zu deren Tod lebte.

Ein Satz genügte, um alles zu verunmöglichen: Sie könnten doch wie Bruder und Schwester zusammenleben, niemand würde sich etwas dabei denken. Am Ende erlebt das seltsame Paar dennoch eine Art Glück, als sie gemeinsam ein paar Skunks beobachten, die sich in einem Vogelbad miteinander vergnügen. "Ihr Gesicht strahlte. (. . .) Ich dachte, vielleicht sagt sie noch etwas und verdirbt es, doch nein. Keiner von uns sagte etwas. Wir waren so froh, wie man nur sein kann."

Dass es besser ist, manche Dinge nicht auszusprechen, spielt in diesen Geschichten mindestens eine ebenso große Rolle wie die Fähigkeit, in einem Gespräch die richtigen Worte zu finden oder etwas erzählen zu können, um den anderen zu unterhalten, wie der Nachtwächter in einem Kino, dessen Frau unheilbar krank ist. Ob sie von Liebeswirren handeln oder von tragischen Verlusten, immer gibt es ein fein austariertes Verhältnis zwischen Gesagtem und Ungesagtem. "All dieses Ausweiden, das heutzutage in Familien betrieben wird, halte ich für einen Fehler", sagt ein Mann, dessen Schwester als Kind vor seinen Augen mit triumphierender Geste in eine Kiesgrube sprang und ertrank. Noch immer ist er "starr" vor Schreck, wenn er daran denkt.

"Vom Gefühl her autobiografisch"

In einer der vier Erzählungen, die Alice Munro mit der Bemerkung einleitet, sie seien "vom Gefühl her autobiografisch", erinnert sie sich an eine Phase nächtlicher Schlaflosigkeit, in der sie Angst davor hatte, sie könnte ihre kleine Schwester erwürgen, die sie über alles liebte. Nächtelang schlich sie ums Haus, um sich abzulenken, bis sie eines Morgens auf ihren Vater traf. Sie gestand ihm alles, mit dem Wissen, im Augenblick ihres Geständnisses nicht mehr dieselbe Person zu sein.

Der Vater aber antwortete nur, es gäbe keinen Grund zur Sorge. "Menschen haben manchmal solche Gedanken." Dass sie mit der Haltung ihres Vaters, der sich mit dem abfand, was das Leben ihm zuteilte, stärker sympathisiert als mit dem Versuch ihrer Mutter, mehr darzustellen, als sie war - eine Farmerstochter, die zur Lehrerin aufgestiegen war, um zur Frau eines Farmers zu werden, der zur falschen Zeit in die Pelzzucht investierte -, daran lässt Alice Munro keinen Zweifel. Das Gespür für Zwischentöne und den Blick für verräterische Details dürfte sie dennoch von ihr geerbt haben, ebenso das blitzschnelle Klassifizieren von Merkmalen, die den Status oder die Gemütslage einer Person verraten.

Der distanzierte Blick aus der Vogelperspektive geht im Werk Alice Munros eine innige Verbindung mit den Stimmen ein, die im Kopf ihrer Figuren hausen. Schon als Fünfjährige hat sie bemerkt, dass das Bild, das ihre Mutter von ihr hatte, von ihrem eigenen Bild abwich. Womöglich war es dieser Zwiespalt, in dem sich ihre Erzählstimme einnisten konnte, die stets nah bei ihren Figuren ist, auch wenn sie nicht aus deren Körper kommt. Als Alice Munro nun mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, ging die Ehrung auch an diese Stimme. Sie kann Distanz und Nähe so eng miteinander verschwistern, dass sie unverkennbar geworden ist.

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