Poetry-Slammerin Julia Engelmann:Exakt kalkuliert

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Julia Engelmann hat bereits Poetry-Slam-Wettbewerbe für sich entschieden. Aktuell kursiert ihr Auftritt beim Bielefelder Hörsaalslam vom Mai 2013 im Netz. (Foto: Imago Stock&People)

Mit Sätzen wie "Das mach ich später, ist die Baseline meines Alltags . . . " und "Mut ist auch nur ein Anagramm von Glück" begeistert Poetry-Slammerin Julia Engelmann das Internet. Sie spricht aus, was alle denken. Aber ihr Video wirkt nicht durch Wahrhaftigkeit, sondern durch Ästhetik.

Von Fritz Göttler

Ich bin Studentin, sagt die blonde junge Frau, als sie vor das Mikrofon getreten ist. Psychologie, erläutert sie dann. Auf ihrer Stirn glänzt Schweiß. Ein nervöses Lachen, ein paar fahrige Handbewegungen, als müsste sie Spuren einer Unruhe wegwischen, eines Lampenfiebers. So beginnt der Auftritt von Julia Engelmann auf dem 5. Bielefelder Hörsaalslam, einer Poesie-Veranstaltung im Mai 2013. Seit ein paar Tagen ist der Mitschnitt eines der meistgeklickten Youtube-Videos im Internet ( siehe nächster Absatz, Anm. d. Red.: das hier gezeigte Video wird lediglich in einem Frame abgebildet und läuft nicht auf einem Süddeutsche.de-Server). Über 1,7 Millionen mal.

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Auch die Presse teilt inzwischen diese Begeisterung, Wahrhaftigkeit und Lebensweisheit wird ihr attestiert, Leidenschaft und Lebensfreude. Julia Engelmann macht Mut. Julia Engelmann spricht aus, was alle denken.

Keine sechs Minuten dauert der Auftritt. Julia Engelmann geht aus von einem Song, den der israelische Sänger Asaf Avidan sang, "One Day/Reckoning Song". Der Refrain, ins Deutsche übertragen: "Eines Tages, Baby, werden wir alt sein, oh Baby, werden wir alt sein, und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können." Ein Mädchen - Julia Engelmann ist Jahrgang 1992 - bezichtigt sich und ihre Generation der Lethargie, der mangelnden Energie, der fehlenden Initiative, des Selbstbetrugs. Aber das mit aller poetischen Dynamik, in einem sagenhaften Tempo. "Ich bin ein entschleunigtes Teilchen . . . Das mach ich später, ist die Baseline meines Alltags . . . Ich bin so furchtbar faul wie ein Kieselstein am Meeresgrund . . . Mein Leben ist ein Wartezimmer, niemand ruft mich auf. Mein Dopamin, das spar ich immer, falls ich's noch mal brauch . . ."

Ein Leben im Konjunktiv

Ein Leben im Konjunktiv, lauter aufgeschobene, nicht verwirklichte Projekte, einmal einen Marathonlauf machen, die Buddenbrooks lesen. Das ist faul und feige, erklärt Julia Engelmann, "lass uns doch Geschichten schreiben, die wir später gern erzählen . . . Mut ist auch nur ein Anagramm von Glück."

Poetry Slams sind Wettbewerbe, es herrscht dort stärkste Konkurrenz. Niemand geht da spontan hin, in aller Naivität. Julia Engelmann hat zwischen 2006 und 2010 am Theater Bremen geschauspielert, hat in den letzten Jahren bereits diverse Poetry-Slam-Wettbewerbe für sich entschieden. Vom Oktober 2010 bis Oktober 2012 spielte sie in der RTL-Soap-Serie "Alles was zählt" die Eishockeyspielerin Franziska Steinkamp.

Julia Engelmann ist ein Profi auf der Bühne, ihre "Reckoning"-Nummer perfekt einstudiert, die Stimme, der Rhythmus, die Handbewegungen. Die Bedeutung, die sie ausstrahlt, ist exakt kalkuliert. Die neue Starpower des Internet unterscheidet sich nicht sehr von der alten. Und auch der virale Effekt, mit dem das Video sich innerhalb weniger Tage so massenhaft verbreitete, von immer mehr Teilnehmern angeklickt und weitergeleitet wurde, verdankt sich nicht der natürlichen Spontaneität von Julia Engelmann. Ihr Video wirkt durch die Ästhetik, nicht durch die Wahrhaftigkeit.

© SZ vom 21.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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