Unicef-Affäre:Helfer in größter Not

Mit neuen Köpfen will das Kinderhilfswerk Unicef aus der hausgemachten Krise kommen. Alle wissen aber, wie wenig Vertrauen noch gespendet wird.

Hans Leyendecker und Johannes Nitschmann

"Was bedeutet für Sie das Wort Vertrauen?" Der 80 Jahre alte langjährige Unicef-Vorstand Reinhard Schlagintweit, der die Besucher in seiner alten Villa in Bad Godesberg, im ehemaligen Diplomatenviertel, empfangen hat, wirkt bei der Frage etwas irritiert. Gewöhnlich unterstreicht der hochgewachsene, hagere Mann mit dem grauen Haarkranz seine Ausführungen mit ausladenden Handbewegungen. Jetzt aber verschränkt er die Arme, presst seine Lippen zusammen, der Mund wird schmal, der Blick gerade: "Vertrauen hat man in Menschen", sagt er nach einigem Zögern, "Menschen müssen Vertrauen ausstrahlen."

Unicef-Affäre: "Unicef war das geliebte Kind der Deutschen", sagt der Journalist Seelmann-Eggebert, der ein Vierteljahrhundert im Vorstand saß.

"Unicef war das geliebte Kind der Deutschen", sagt der Journalist Seelmann-Eggebert, der ein Vierteljahrhundert im Vorstand saß.

(Foto: Foto: ddp)

Vertrauen ist eines der Schlüsselworte, wenn es um Hilfsorganisationen geht. Alte Lexika erklären, dass Vertrauen etwas mit Glaube, Zuversicht, Zuverlässigkeit zu tun hat. Aber der Glaube an die Verlässlichkeit von Unicef ist vielen Deutschen durch eine Affäre verlorengegangen, die so verwinkelt ist, dass sich selbst Experten in diesem Labyrinth verlaufen können. Klar ist nur eins: Es ist ein gewaltiger Schaden entstanden.

Ein Riss im Himmel

Schlagintweit hat in seinem Berufsleben - er war von 1952 bis 1993 im diplomatischen Dienst - manchen Schaden besichtigen können, aber selbst für den Ex-Diplomaten in Iran und Saudi-Arabien, der als Begleiter von Kanzler, Bundespräsident und drei Außenministern wirklich heikle Missionen erlebt hat, war das Desaster eine "neue Erfahrung: Früher haben es meine Minister abgekriegt. Jetzt bin ich selbst reingeraten bis zum Scheitel".

Als läge die Unicef-Zentrale nicht in Köln, sondern in Kabul (wo Schlagintweit auch mal Botschaftsattaché war), wurde das Kinderhilfswerk zu einer Kampfzone zwischen der Vorstandsvorsitzenden Heide Simonis, 64, und dem langjährigen Geschäftsführer Dietrich Garlichs, 60. Beide traten Anfang des Jahres erschöpft zurück. Schlagintweit wurde aus dem Ruhestand geholt und als Interimsvorsitzender reaktiviert.

Selbst Profis der Wohltätigkeitsorganisation wirkten am Ende leicht verwirrt. Ehrenamtliche ließen ihr Ehrenamt ruhen, 37000 einst treue Fördermitglieder, die monatlich im Schnitt zwölf Euro zahlen, wendeten sich enttäuscht ab. Unicef verlor das Spendensiegel, das Gütezeichen für den sorgsamen Umgang mit Spenden. Die Ausfälle beziffert die Organisation mit sieben Millionen Euro, Ende des Jahres könnten es 20 Millionen Euro sein. "Wir sind in großer Sorge", teilte vor zwei Monaten der Großspender "Payback" der Unicef-Zentrale schriftlich mit. Wenn sich nichts ändere, werde das Unternehmen, das jährlich 200000 bis 500000 Euro spendet, das Geld einer anderen Organisation geben.

"Aber die Wahl ist offen"

An diesem Donnerstag aber soll der Neuanfang beginnen. Auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung des bis zu 60-köpfigen Deutschen Komitees für Unicef in Berlin wird ein neuer Vorstand gewählt. Der stimmt dann über einen neuen Vorsitzenden ab. Viele Namen kursieren. Bis zur Liechtenstein-Steuer-Razzia, bestätigt Schlagintweit, habe der frühere Postchef Klaus Zumwinkel "weit oben auf einer längeren Kandidatenliste gestanden".

Die Personalie hat sich erledigt. Lieblingskandidatin der Basis, also der Ehrenamtlichen und der Politik-Szene, war Christina Rau, die Frau des verstorbenen Bundespräsidenten. Aber Frau Rau hat im Gespräch mit Schlagintweit eine Kandidatur ausgeschlagen, weil sie schon mit vielen Ehrenämtern ausgelastet sei. Jetzt wird eine ehemalige Olympiasiegerin, die Dressurreiterin Ann Kathrin Linsenhoff, als Favoritin gehandelt. "Denkbar", sagt Schlagintweit: "Aber die Wahl ist offen, sie muss erst in den Vorstand gewählt werden."

Egal wer kommt - eine Herkules-Aufgabe ist zu bewältigen: Eine neue Satzung muss her, womöglich ein neues Statut, vor allem mehr Transparenz, Leitlinien und was es sonst noch alles gibt, um einer Hilfsorganisation aus der größten Not zu helfen. Ein nationales Projekt gewissermaßen. Kanzlerin Angela Merkel hat Unterstützung angeboten. Helfen will auch der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, ein Kenner von Charity-Events mit knapp bekleideten Starlets, die am Buffet Geld für hungrige Kinder sammeln.

Auf der nächsten Seite rauschen die Blätter und es hagelt Sitzungen.

Helfer in größter Not

Diverse Wirtschaftsgrößen, darunter Turnaround-Spezialisten und Werber wie der Gründer der Agentur Scholz & Friends, Thomas Heilmann, basteln seit Wochen an einem neuen Konzept: "Help-Force" wird die vor allem von Sponsoren unterstützte Wirtschaftstruppe intern genannt. "Die sind dynamischer, zielbewusst und auch kritisch", räumt Schlagintweit ein. Andererseits: Dass Sponsoren jetzt in den Vorstand drängen, ist ein klarer Interessenkonflikt. Weder Hilfswerk noch Gönner sind dann noch frei.

War die Causa Unicef wirklich Fügung?

Das Engagement hat, neben Werbeeffekten, im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens: "Unicef war das geliebte Kind der Deutschen", sagt der Fernseh-Journalist Rolf Seelmann-Eggebert, 71, der ein Vierteljahrhundert lang im Vorstand saß: "Umso größer war dann der Absturz." Zweitens: Wem soll man noch trauen, wenn nicht einer Wohlfahrtsorganisation? Lügen und Wortbrüche von Politikern nehmen viele Bürger mittlerweile halb verächtlich oder resigniert hin, das Vertrauen in Spitzenmanager ist überschaubar geworden, aber der Vertrauensbruch durch Akteure, die angeblich selbstlos agieren, ist wie ein Riss im Himmel.

Aber wie konnte der passieren? Den im Umgang mit zerstrittenen Königshäusern gestählten Adelsexperten Seelmann-Eggebert erinnert der Fall "im Rückblick an eine griechische Tragödie". Eine Tragödie aber ist schicksalhaft und unvermeidlich - war die Causa Unicef wirklich eine Fügung? Von einer "verhängnisvollen Entwicklung ", deren genaue Ursachen sich nicht mehr lokalisieren ließen, spricht Schlagintweit.

Das Unheil, dies zumindest kann als gesichert gelten, nahm seinen Lauf, als am 29. Mai 2007 bei Frau Simonis ein anonymer Brief eintraf, der vielfältige und - wie sich später herausstellte - zahlreiche falsche Anschuldigungen gegen Geschäftsführer Garlichs enthielt. Ziemlich üble Denunziationen waren darunter. Der Briefeschreiber warf Garlichs Vorteilsnahme vor, es ging um den angeblich zu teuren Umbau in der Zentrale, um Garlichs Privathaus, die angeblich zu hohe Fluktuation bei Unicef und generell um das Thema Berater- und Dienstleistungsverträge.

"Widerspruch zwischen Vorstellung und Wirklichkeit"

Später fand die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG heraus, dass weder Geld veruntreut noch im Wortsinn verschwendet worden war, und auch Garlichs hatte sich nicht bereichert. Die KPMG erteilte aber Rügen in formalen Angelegenheiten; vor allem, weil schriftliche Vereinbarungen fehlten. Alles in allem aber war der Fall, verglichen mit normalen Skandalen der Wirtschaftswelt, eine Bagatelle.

Es ging eher um Grundsätzliches aus der Welt der Wohltätigkeitsorganisationen. Dass ehemalige Unicef-Mitarbeiter Tageshonorare von 600 bis 800 Euro kassierten, war weder der Öffentlichkeit noch der Basis vermittelbar. "Das war der Stein des Anstoßes", sagt Schlagintweit. "Der Widerspruch zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, mit der eine Spendenorganisation heute arbeitet", schockiere die Leute, hat Schlagintweit in einem Schreiben an das "Deutsche Komitee für Unicef" festgestellt.

Der Fall lastet schwer auf der gesamten Spendenbranche: Vier Milliarden Euro geben die Deutschen im Jahr für wohltätige Zwecke. Auch die anderen Organisationen fürchten nun Auswirkungen auf ihren Betrieb."Wir pflegen das Mutter-Teresa-Image, aber das trifft die Wirklichkeit längst nicht mehr", hat in diesen Tagen Hans-Joachim Preuß, Generalsekretär der Welthungerhilfe, eingeräumt. Das Illusionsgebäude bei Unicef ist längst in sich zusammengefallen. Die Gremien, die sich früher alle drei Monate mal trafen, um Beschlossenes zu besprechen oder in geheimer Abstimmung Kandidatenlisten mit hundert Prozent Zustimmung durchzuwinken, waren, als der anonyme Brief eintraf, schrecklich aufgeregt. Es hagelte Sondersitzungen, es gab Streitereien.

Zwei für jeden Streit

Dann passierte etwas, was bei solchen Gelegenheiten nicht selten passiert: Eine Zeitung, in diesem Fall die Frankfurter Rundschau, bekam eine Kopie des Briefes, und fortan war Land unter in Köln am Rhein. Die Blätter rauschten, Medien hatten einen neuen Skandal entdeckt. Schlagintweit staunt heute noch über die "Eigendynamik" einer solchen Affäre und zitiert den französischen Medientheoretiker Jean Baudrillard: "Es gibt keine Fakten. Es gibt nur Fakten, die Medien darstellen."

"Erstaunt" habe ihn "die Schnelligkeit, mit der viele Menschen bereit sind, ungeprüfte Urteile abzugeben". Die Kölner Staatsanwaltschaft las auch die Zeitungsberichte und legte, wie fast immer in solchen Fällen, ein Aktenzeichen an. Seitdem wird gegen Garlichs wegen Verdachts der Untreue ermittelt. Das kann dauern.

Frau Simonis war früh überaus besorgt, und ihre große Besorgnis spiegelte sich zur Verblüffung der übrigen Unicef-Führung auch in Zeitungsartikeln wider. Erstaunlich war auch, dass sie die Vorwürfe seit Frühsommer 2007 kannte und fünf Monate später gegenüber Journalisten überrascht tat. "Die Vorsitzende muss integrieren, sie darf sich nicht distanzieren", notierte Schlagintweit am 29. November 2007 in seinem Tagebuch.

Auf der letzten Seite lesen Sie, wie die Unicef-Leute mit dem taoistischen "Wu-wei"-Prinzip der Chinesen bekannt gemacht wurden.

Helfer in größter Not

Der schneidige Garlichs tat sehr kühl und nannte die Vorwürfe "absoluten Quatsch": Frau Simonis erklärte später bei einer der vielen Sitzungen, in Zeitungskommentaren sei der Eindruck entstanden, "als würde Herr Dr. Garlichs mich der Lüge bezichtigen". Beide stritten wie ein altes Ehepaar, dem der Hader zur lieben Gewohnheit geworden ist.

Zwei sehr unterschiedliche Typen sind das: Garlichs ist ein kühler Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, der in Harvard und Konstanz studiert hat, im Kanzleramt und im Bundeswirtschaftsministerium arbeitete, einem Zeitschriftenverleger half, bei einer der vielen Dugena-Sanierungen dabei war und 1989 bei Unicef angefangen hatte.

In seiner Wohnung hat er ein Laufgerät stehen. Marathonläufer ist er auch. Das eher müde Unternehmen Unicef hat er bei den Spendeneinnahmen nach vorn gebracht. Die Einnahmen haben sich in seiner Amtszeit auf 97 Millionen Euro im Jahr vervierfacht. "Es ist ihm zu verdanken, dass Unicef bundesweit und auch international an die Spitze gerückt ist", rühmt Schlagintweit und macht dabei mit den Fingern so etwas wie ein Ausrufezeichen in der Luft.

Wu-wei zu Weihnachten

Simonis ist SPD-Politikerin, Ministerpräsidentin in Kiel war sie von 1993 bis 2005, bis sie bei der Wahl zur Regierungschefin von einem Anonymus aus den eigenen Reihen im Stich gelassen wurde. Wenn Frauen "Ablehnung erfahren, trifft sie das oft bis ins Mark, sie quälen sich mit Selbstzweifeln und grübeln die ganze Nacht". Männer hingegen würden sagen: "Schwamm drüber, weiter im Text", hat Frau Simonis mal geschrieben. Schlagintweit und Garlichs hatten sie im Januar 2006 als Chefin zu Unicef geholt."Die Frau war sehr fleißig und hat viel gearbeitet", sagt Schlagintweit. Bald aber fand sie, dass der Geschäftsführer Garlichs nach Gutsherrenart regiere: "Er wurde Mister Unicef genannt", hat sie in einer Talkshow gesagt. "Das war für mich der Schlüsselsatz", kommentiert Seelmann-Eggebert: "Es gab also keine Mrs. Unicef."

Nicht nur Heide Simonis hat in der größten Krise des deutschen Kinderhilfswerks versagt. Unicef-Schatzmeister Peter von der Heydt nannte in einer der vielen Krisensitzungen das Krisenmanagement "furchtbar", Seelmann-Eggebert verwendete den Begriff "desaströs" - und beide Charakterisierungen waren noch Untertreibungen. Bei der Weihnachtsfeier vor ein paar Monaten hat Schlagintweit die Unicef-Leute mit dem taoistischen "Wu-wei"-Prinzip der Chinesen bekannt gemacht: Das meint ungefähr, "Handeln durch Nichthandeln". Genau das war das Problem.

Briefe vom Mann fürs Grobe

Heute noch spricht Schlagintweit von einem "Tsunami", der über die Wohlfahrtsorganisation weggefegt sei. Eine unabänderliche Naturkatastrophe? Woher aber stammten die vielen kleinteiligen Details aus dem Apparat, die an Medien gelangten? "Von mir nicht", beteuerte Frau Simons, als sie noch im Amt war. "Ich bin doch nicht wahnsinnig."

Ihr Assistent in Kiel aber versorgte die im Fall Garlichs ermittelnde Kölner Staatsanwaltschaft mit Tipps für Ermittlungsansätze gegen Garlichs. "Unter jedem Niveau", "denunziatorisch", "hetzend", stellten Vorstandsmitglieder auf einer Sitzung im Februar fest, seien die Briefe gewesen, die der Mann fürs Grobe an die Strafverfolgungsbehörde geschickt hatte. Darunter waren Hinweise wie: Der nicht geschiedene Garlichs lebe mit einer anderen Frau zusammen, und beim Finanzamt sei er als verheiratet gemeldet. Ob er sich damit nicht einen finanziellen Vorteil verschaffe?

Bei näherem Hinsehen entpuppen sich auch Skandale häufig als sehr banal. Als Heide Simonis im Februar zurücktrat, erklärte sie beim Abschied, sie werde dann kommende Woche "weder beim Fischsuppenessen in Böblingen" noch bei einer "Veranstaltung in Eckernförde" auftreten. Doch wer wird jetzt die Suppe auslöffeln müssen?

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: