Proteste in der Ukraine:Heimatland und Feindesstaat

Anti-government protesters gather outside the regional administration headquarters as they attempt to take over during a rally, with Interior Ministry members standing guard inside the building, in the town of Chernivtsi

Demonstranten versuchen ein Behördengebäude in der Provinz zu stürmen.

(Foto: Reuters)

Wer in Lemberg gegen Präsident Janukowitsch demonstriert, der bekommt von seiner Firma frei. Wer dasselbe in Donezk tut, wird verprügelt. Reise durch eine zweigeteilte Ukraine.

Von Cathrin Kahlweit, Lemberg, und Julian Hans, Donezk

Die Tränen fließen in aller Stille. Sie schämt sich. Echte Heldinnen zeigen keine Verzweiflung. Aber Ira hat ihre Familie verlassen müssen und damit ihr ganzes früheres Leben. Sie ist erst 20, eine kleine Person mit einem Kindergesicht voller Angst - und doch war sie eine der Organisatorinnen des Euro-Maidan in ihrer Heimatstadt Saporoshie.

In der riesigen Industriestadt im Südosten der Ukraine leben vor allem Wähler von Präsident Viktor Janukowitsch, Anhänger der postsowjetischen Ordnung. Aber auch Saporoshie stellte nach dem Scheitern des Gipfels von Vilnius eine prowestliche Demonstration auf die Beine, so wie Dutzende Städte im ganzen Land; mehrere Tausend Menschen versammelten sich in Iras Heimatstadt an guten Tagen.

Neulich aber, an einem sehr schlechten Tag, prügelte die Miliz die Demonstration auseinander. Wer sich in seiner Not in ein Taxi flüchtete, um dem Hexenkessel zu entkommen, wurde von einigen Taxifahrern auf einem Polizeirevier abgeliefert und nicht daheim. Der Gouverneur kündigte an, dass die Protestbewegung in ihrem eigenen Blut ertrinken werde.

Ira bekam Drohanrufe, da ist sie abgehauen. Im Auto, unter fremdem Namen - ans andere Ende des Landes, nach Lemberg. Hier, sagt sie mit dünner Stimme und ist bemüht, nicht zu zeigen, wie verzagt sie ist, werde sie beschützt. Hier sei es anders. Europäisch. Sicher. Frei.

Ihren Eltern hat sie nicht gesagt, wo sie ist. Die würden nicht verstehen, glaubt sie, dass sie, eine junge Studentin mit hochfliegenden Plänen, jetzt in der Westukraine auf den Sieg einer Revolution hofft, die ihre Familie für einen Staatsstreich von Faschisten und amerikanischen Agenten hält. Und dass sie nicht weiß, ob und wann sie heimkehren kann. Derzeit ist Saporoshie für sie nicht mehr Heimat, sondern Feindesland.

Feindesland für die pro-europäische Bewegung und die demokratische Opposition ist auch Donezk, Mittelpunkt des Bergbaugebiets Donbass im Osten, Zentrum der Schwerindustrie seit der Zeit, als die Ukraine eine Sowjetrepublik war. Und Heimat von Präsident Viktor Janukowitsch. Hier hatte er bei den Wahlen 2010 sein bestes Ergebnis erzielt - mehr als 90 Prozent. Hier hat Sergej Bogatschow, der örtliche Vize-Chef der Partei der Regionen, sein Büro. Im Vorzimmer liegt die Rossijskaja Gasjeta aus, das offizielle Organ der russischen Regierung. Das Büro schmückt ein Ölgemälde von Peter dem Großen.

In Donezk kippte die Stimmung

Auch in Donezk hat es Demonstrationen gegeben. Seit der Absage an die EU im November versammelten sich täglich Menschen vor der Regionalverwaltung um das Denkmal des Nationaldichters Taras Schewtschenko. Zwei Monate lang sei alles friedlich verlaufen, sagte Bogatschow, doch als ein Oppositionspolitiker anregte, nach dem Vorbild des Kiewer Auto-Maidans im Konvoi zur Villa von Janukowitschs Frau Ljudmila zu fahren, kippte die Stimmung. "Hier ist die Heimat von Janukowitsch, die Menschen haben ihn gewählt, das hat sie sehr aufgebracht. Was hat seine Frau mit der Politik zu tun?"

In Blogs örtlicher Aktivisten kann man Bilder von diesen angeblich aufgebrachten Menschen sehen: Es sind junge, durchtrainierte Männer in Trainingsanzügen, die mit Fäusten auf Demonstranten losgehen. Nachdem im Internet Steckbriefe der Donezker Maidan-Organisatoren veröffentlicht wurden - mit Fotos, Geburtsdatum und vollständiger Meldeadresse, wie sie eigentlich nur die Behörden kennen können, da wurden die Treffen unterbrochen.

Maxim Kasjanow sagt, er kenne die Männer gut, die auf ihn und seine Freunde losgegangen seien. Er berichtet seit vielen Jahren als Journalist über Korruption und Kriminalität in Donezk. Der 36-Jährige war vom ersten Tag an auf dem Donezker Maidan, so wie Ira in Saporoshie.

Mal waren sie nur eine Handvoll, mal war der Platz vor der Regionalverwaltung rund um die Uhr besetzt. Kasjanow trägt Schienbeinschoner unter seiner weiten Schneehose und einen Brustpanzer für Motorradfahrer. Sein Name steht auch auf der Liste im Internet. Als "Amerikanische Propagandisten" und "Extremisten" werden er und seine Mitstreiter diffamiert. Die Schläger seien immer die gleichen, sagt Kasjanow, offenbar gehörten sie zu einer Bande, die Geld für Übergriffe nehme. Umgerechnet 35 Euro bekämen sie für ihren Einsatz, schätzt der Journalist, mit Körperverletzung werde es teurer.

Maxim aus dem Osten hält vorläufig die Stellung in einer Stadt, die von der Revolution nichts wissen will. In Lemberg, im Westen der Ukraine, sitzt Sofia Opatska in ihrem Universitätsbüro und versucht, die Revolution am Leben zu halten, während sie hilft, wo sie kann. Die Dekanin der Lviv Business School ist Teil eines Netzwerks, das Aktivisten aus dem Rest des Landes unterstützt. Soweit ist es mittlerweile gekommen: Ukrainer sind auf der Flucht vor anderen Ukrainern - so wie Ira.

In Lemberg - ukrainisch Lwiw - hängt ein Banner am Rathaus: Freie Stadt, freie Bürger. In dieser Stadt mit knapp 750 000 Einwohnern, davon 180 000 Studenten, hat die Revolution gar nicht wirklich stattgefunden, weil sie nicht stattfinden musste. Der lokale Maidan auf der Freiheitsstraße ist verwaist, weil alle, die weg können, sowieso regelmäßig nach Kiew fahren. Hier seien, sagt Sofia Opatska, sowieso alle einer Meinung: Das Regime müsse weg, Demokratie müsse her. So wie das in Lemberg gefühlt sowieso schon der Fall ist.

Kiew ist Frontstadt, der Westen der Ukraine ist Etappe

Die Westukraine wurde erst mit dem Zweiten Weltkrieg sowjetisch, davor gehörte sie zur Habsburger Donaumonarchie, davor zu Polen. Hier wurde schon immer antirussisch gewählt. Hier ist man oppositionell, katholisch, patriotisch. Von hier stammen die Nationalisten, die derzeit in Kiew Randale machen. Und die kämpfen wollen bis zum bitteren Ende.

Aber warum hat auch Sofia Opatska Tränen in den Augen? Sofia hat kleine Kinder, deshalb steht sie selbst nicht in Kiew auf dem Maidan. Aber auch von Lemberg aus kann man die Revolution unterstützen; fast die ganze Stadt tut das. Kiew ist Frontstadt, der Westen der Ukraine ist Etappe. Hier geben die Firmen ihren Leuten gern frei, wenn die demonstrieren fahren wollen, Freiwillige sammeln Kleider, Lebensmittel, Geld. Hier werden Busfahrten für Demonstranten organisiert, in Lemberg produzieren Unterstützer Schutzkleidung für Kiew.

Lemberger Krankenhäuser behandeln jene Verletzten, die sich in Kiew nicht zum Arzt trauen, weil die Sondereinheiten Verletzte dort schon mal von der Trage weg verhaften. In Lemberg hat sich die Polizei vor das Volk gestellt: Sie hat versprochen, nicht gegen Ukrainer in den Kampf ziehen. Hier suchen Aktivisten wie Ira Schutz, die sich daheim, im Janukowitsch-Land im Osten, nicht mehr sicher fühlen.

Nachdenken über Emigration

Und doch ist die Ökonomin Sofia Opatska deprimiert. Sie denkt schon über eine Emigration nach, während sie noch hofft und hilft. Denn sie fürchtet: "All die Unterstützung, der ganze Kraftaufwand, all die Euphorie könnten am Ende nicht reichen. Ich habe das Gefühl, dass die Partei der Regionen alles tut, um an der Macht zu bleiben. Und das wir zu wenig entgegenzusetzen haben." Diese Revolution, fürchtet sie mittlerweile, könnte ein zerrissenes Land hinterlassen. Und ein Regime, das sich bitter rächen wird.

Kritische Geister im Osten des Landes sehen das auch so. Hier sitzen jene, die politisch am meisten zu verlieren haben, wenn Janukowitsch und seine Oligarchen an Einfluss verlieren. Wladimir Kipen ist Politikwissenschaftler in Donezk. Zwischen 12 und 14 Milliarden Griwna an Subventionen flössen jedes Jahr in die Region, um die Industrie zu stützen, sagt er. Ein großer Teil des Geldes werde unterwegs abgezweigt. Diejenigen, die von diesem korrupten System profitierten, sähen jetzt die Zeit gekommen, ihre Loyalität zu zeigen. "Es gibt auch hier eine große Unzufriedenheit", sagt Kipen.

Vor einigen Jahren hat er ein privates Institut für Sozialforschung gegründet; derzeit forscht er über den Umgang der Medien im ukrainischen Osten mit der Revolution. Regierungskritische Sender wie Kanal 5 sind außerhalb der großen Städte nicht zu empfangen. Stattdessen sähen die Menschen russisches Fernsehen. "Wir haben eine echte Informationsblockade", sagt der Wissenschaftler.

Ukrainer gegen Ukrainer?

Die Menschen sollen nicht wissen, was sich im Rest des Landes abspielt, und wer es doch weiß, der soll abgeschreckt werden - mit gezielter Provokationen. Jüngst etwa verkündete Janukowitsch-Mann Bogatschow in Donezk, Extremisten aus dem Westen seien in Bussen unterwegs, um die Regionalverwaltung zu stürmen. Einen Tag lang patrouillierten Regierungsanhänger, aber keiner kam. Inzwischen hat Kipen die Bestätigung: Es waren keine Aktivisten unterwegs. Die Schein-Bedrohung stabilisiere die Macht , glaubt der Sozialforscher: "Sie mobilisiert die Menschen nach dem alten Prinzip' die gegen uns."

Ost gegen West, russisches Lager gegen westliches Lager, Ukrainer gegen Ukrainer? Noch ist nichts verloren, noch wird verhandelt in Kiew, Oppositionsführer Vitali Klitschko reist zur Sicherheitskonferenz und der US-Senat bereitet Sanktionen vor.

Aber was ist, fragen sich die Aktivisten in Kiew und Lemberg, wenn die Olympischen Winterspiele in Sotschi vorbei sind und es in den Augen des großen Bruders in Moskau keine Rücksicht mehr auf internationale Reaktionen zu nehmen gilt? Wird dann, im schlimmsten Fall, Wladimir Putin seine Marionette Viktor Janukowitsch drängen, die Armee einzusetzen? Solche Meldungen haben Konjunktur. Der Verteidigungsminister appelliert schon an den Präsidenten als "Oberbefehlshaber der Armee, Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage zu treffen, damit die verfassungsmäßige Ordnung gewahrt" werde.

Politisch bewegt sich wenig: Viktor Janukowitsch hat sich krank gemeldet . Das Amnestiegesetz, das er am Freitag unterzeichnete, ist seinen Namen nicht wert, da es erst gilt, wenn die Demonstranten abgezogen sind und es den Staatsanwälten die letzte Entscheidung darüber lässt, wer trotzdem weiter verfolgt werden darf. Ex-Premier Mykola Asarow hat sich, heißt es, nach Wien abgesetzt, wo sein Geld lagert, die Einsetzung einer neuen Regierung zieht sich hin. Und die Radikalen vom "Rechten Sektor" verlangen, bei den Verhandlungen, die vor der nächsten ordentlichen Parlamentssitzung am kommenden Dienstag weitergehen sollten, als dritte Partei mit am Tisch zu sitzen.

"Freiheit - das ist schwere Arbeit"

Gebe es keine echten Kompromisse von Seiten der Macht, werde man nicht abziehen, betont die Opposition. Das Regime foltere, verhafte, verurteile nach wie vor, als hätte es alle Gespräche der vergangenen Woche nicht gegeben. Tatsächlich beklagt die Euromaidan-Bewegung weitere Opfer. Am Donnerstag ist der Anführer des Automaidan, Dmitrij Bulatow, wieder aufgetaucht. Er war vor acht Tagen verschleppt worden.

Gemeinsam mit Freunden war er regelmäßig in einer Wagenkolonne an den Stadtrand gefahren, um vor den Villen von Janukowitsch und seinen Freunden zu demonstrieren. Bulatow lebt noch. Aber er hat Stich- und Schnittwunden am ganzen Körper, ein Ohr ist abgeschnitten. Seine Peiniger hätten ihn regelrecht gekreuzigt, berichtet er. In Lemberg haben sie vor wenigen Tagen einen Demonstranten zu Grabe getragen, der entführt und gefoltert wurde. Er hat es nicht überlebt.

Fast die ganze Stadt war bei der Beerdigung, auch Bürgermeister Andrij Sadowij. Er hat letztes Jahr seine eigene Partei gegründet, sie heißt: Selbstverteidigung. An die glaubt er, weil er an einen Rückzug des Präsidenten, an die diplomatischen und politischen Fähigkeiten der Oppositionsführer und vor allem an die Hilfe des Westens nicht mehr glaubt. "Wenn ein Mädchen vergewaltigt wird, darf man doch auch nicht wegschauen", sagt er drohend, und schaut dabei in seiner Strickjacke und mit seiner randlosen Brille sehr harmlos drein. "Aber zur Zeit sieht es so aus, als würde Europa genau das tun."

Der Westen habe beschlossen, sagt Sadovij, die Geschichte der Ukraine zu vergessen: die Teilung, den Terror, die Unterdrückung. Also müsse sich das ukrainische Volk selbst helfen. Auch der Bürgermeister von Lemberg ist nicht sehr optimistisch, dass das jetzt, 2014, mit diesem Volksaufstand, mit diesen Anführern, gelingen wird. Dazu seien die Kräfte im Osten zu stark. "Alle möchten jetzt eine Tat, eine schnelle Entscheidung, die alle glücklich macht. Aber Freiheit - das ist schwere Arbeit."

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