Steuerbetrug und soziale Akzeptanz:Sind wir alle steuerschizophren?

Steuerbetrug und soziale Akzeptanz: Wie wir durch das Gerüst aus sozialen Normen klettern, ist uns großenteils selbst überlassen.

Wie wir durch das Gerüst aus sozialen Normen klettern, ist uns großenteils selbst überlassen.

(Foto: Christian Endt)

Warum sind wir empört über Alice Schwarzers Steuerbetrug? Und weshalb findet jeder Zweite es zugleich akzeptabel, Steuern zu hinterziehen? Zahllose Normen regeln unseren Alltag. Manche befolgen wir, andere nicht. Was sind die Gründe dafür? Eine Annäherung.

Von Lena Jakat

20 Euro für einen Bewirtungsbeleg von der Familienfeier? 200 für eine großzügige Berechnung des Arbeitswegs? 2000 für ein jahrelang als Lagerstätte für ausrangierte Spielsachen genutztes Arbeitszimmer? Fast jeder hat sich das schon einmal durchgerechnet. 200 000 Euro hat Alice Schwarzer in den vergangenen zehn Jahren an Steuern hinterzogen und nun zurückgezahlt. Das füllt die Talkrunden und Kommentarspalten. Die Empörung ist groß und sie ist ehrlich. Und insgeheim denkt jeder zurück an seine letzte eigene, nicht ganz ehrliche Steuererklärung. Leiden wir alle unter kollektiver Steuerschizophrenie?

Steuerhinterziehung gilt vielen in Deutschland als Kavaliersdelikt. Der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Schneider von der Universität Linz präsentierte auf einer Tagung zur Schattenwirtschaft 2010 Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage, wonach nur knapp 50 Prozent es für unvertretbar hielten, Steuern zu hinterziehen. Die andere Hälfte also fand das mehr oder weniger akzeptabel. Andere Untersuchungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Deutschland liegt damit laut einem Bericht des Bundesfinanzministeriums von 2005 international im Mittelfeld zwischen Japan und Griechenland.

Steuermoral lautet der Fachbegriff für diese Zustimmungswerte. Und auch weil davon, wie es um diese Moral bestellt ist, die Finanzlage des Staates abhängt, beschäftigen sich allerlei Fachleute damit. Steuerpsychologen wie Stephan Mühlbacher, die erforschen, was wir als gerecht empfinden. Juristen und Verwaltungsmenschen, die gerechtere Gesetze entwickeln sollen. Und Philosophen wie Norbert Hoerster, die darüber nachdenken, wie diese Gerechtigkeit überhaupt aussehen soll.

Eine Gesellschaft muss sich finanzieren. Dafür bezahlen ihre Mitglieder Steuern. Von denen zugleich ein Großteil Steuerhinterziehung als Bagatelle abtut. Warum ist das so?

"Natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, sind unbeschränkt einkommensteuerpflichtig", heißt es in Paragraf 1 des Einkommensteuergesetzes. Eine von unzähligen Normen, aus der das gesellschaftliche Gerüst zusammengesetzt ist, in dem wir uns ständig bewegen. Wenn wir auf dem Weg zur Arbeit die Vorfahrtsregeln beachten. Im Lift grüßen. In der Kantine bezahlen. Normen, überall. Das Gerüst, das die Gesellschaft stützt und formt. Rechtsnormen, soziale Normen, ethische Normen.

Normen funktionieren erstens durch Sozialisation. Viele haben wir so verinnerlicht, dass es nicht einmal der Androhung einer Strafe bedarf, damit wir uns an sie halten. Dabei geht es um Grundlegendes, zum Beispiel, anderen keine Gewalt anzutun. Bei anderen Normen spielen zweitens Sanktionen eine größere Rolle. Missachtung durch die Kollegen, weil man jemanden unfair behandelt. Punkte in Flensburg, weil man den Wagen bei Rot nicht stoppt. Strafzahlungen bei Steuerdelikten.

Randerscheinung im kollektiven Normhaushalt

"Die Steuerpflicht ist keine Norm, die man verinnerlicht hätte. Man trifft erst im Erwachsenenalter auf sie", sagt Carsten Ullrich. Der Soziologe von der Universität Duisburg-Essen hat sich unter anderem mit der Akzeptanz von Sozialpolitik beschäftigt. "Die Steuerpflicht gehört nicht gerade zu den zentralsten in unserem kollektiven Normhaushalt."

Erstens lässt sich eine Norm wie diese relativ angstfrei missachten. Ich muss mich nicht vor der Verachtung meiner Freunde fürchten, wenn ich bei der Einkommensteuer schummle, oder wenn ich bei meiner Krankenkasse Yoga-Stunden für Rückenschmerzen einreiche, die ich gar nicht habe. Und nicht nur soziale, auch rechtliche Sanktionen erscheinen oft sehr unwahrscheinlich. "Wer kontrolliert schon so eine kleine Nummer wie mich?" Und selbst für den unwahrscheinlichen Fall zeigen viele Beispiele prominenter Steuerhinterzieher womit man (scheinbar) mehr oder minder straffrei durchkommt. Sanktionen? Ich habe keine Angst.

Was heißt schon "dem Kollektiv schaden"?

Zweitens ist eine solche Norm, die sich nur intellektuell nachvollziehen lässt, "schwer zu verstehen", sagt Ullrich. "Die Beziehung zwischen Normbruch und dem Schaden, der dadurch entsteht, ist sehr komplex." Moralisch ungleich komplizierter zu bewerten als "Ich klaue dir 100 Euro aus deinem Portemonnaie". Dem Kollektiv zu schaden - was heißt das eigentlich? Was sind schon die 20 Euro auf meinem Bewirtungsbeleg angesichts eines Bundeshaushalts von 302,9 Milliarden Euro? Es ist ihre Komplexität, die diese Norm dem Verständnis derer entzieht, die sich eigentlich an sie halten sollen. Deswegen forderte der damalige Präsident des Bundesfinanzhofs, Wolfgang Spindler, bei der Schattenwirtschaftstagung 2010 unter anderem eine verständlichere Steuerpolitik.

In seinem Vortrag machte Spindler (neben dem oben erwähnten Gerechtigkeitsempfinden) einen dritten Faktor aus, der die Steuermoral beeinflusst: die Individualisierung. Unter dem Schlagwort vom Wertewandel noch so ein Grundbegriff der Soziologie. Veränderung kollektiv verbindlicher Werte, Auflösung verbindlicher sozialer Strukturen, Pluralisierung der Lebensstile. Das große normative Gerüst steht zwar noch da. Wie man sich darin zu bewegen hat, ist aber größtenteils jedem selbst überlassen.

In demselben Maße wie viele einst verbindliche soziale Regeln wegfallen, wächst die moralische Anforderung an den Einzelnen. "Jeder muss für sich reflektieren, sich gegebenenfalls zwischen konkurrierenden Normen entscheiden. Das kann auch schnell überfordern und zum Normbruch führen", sagt Ullrich. Beim Klettern im Regelgerüst die Sprosse "Als Fußgänger bei Rot stehenbleiben" ignorieren, sich stattdessen für mehr Coolness und Selbstbewusstsein entscheiden? Astronomische Summen an Steuern zahlen oder doch lieber durch Spenden die Gesellschaft direkt da unterstützten, wo es mir wichtig ist? Bei der Förderung von Frauen und Mädchen zum Beispiel?

Oder doch bei Rot stehen bleiben? Selbst wenn weit und breit keiner zu sehen ist? "Klar, es gibt immer noch Menschen, die sich extrem regelkonform verhalten", sagt Ullrich. Aber die werden immer weniger. In den neunziger Jahren ordnete ein soziologisches Standardwerk noch 18 Prozent der Bevölkerung dem Milieu der "Konventionalisten" zu, denen Pflicht und Akzeptanz am wichtigsten sind. Inzwischen dürften das noch deutlich weniger sein. Was aus Sicht der Steuerbehörden womöglich bedauerlich ist. Aus demokratischer Sicht dagegen nicht. Über die Risiken obrigkeitsgläubiger Gesinnung herrscht schließlich und glücklicherweise breiter Konsens.

So ist es also am Ende an jedem Einzelnen, sich selbst von der Sinnhaftigkeit eines normkonformen Verhaltens zu überzeugen. Wo der Pfarrer nicht mehr mit dem Fegefeuer droht, wo ein bisschen Schummeln vielerorts sogar zum Zeitgeist gehört, wo die Angst vor direkten beruflichen Konsequenten gering ist, muss jeder ADAC-Mitarbeiter für sich entscheiden, wie verwerflich ein paar Zahlendreher sind.

Und vielleicht liegt am Ende hier auch die Erklärung für die ehrliche Empörung über Schwarzers Steuerdelikt: Wo die klassischen Normenmaschinen - Staat, Kirche oder Familie - verschwinden, übernehmen prominente Einzelpersonen diese Funktion. Menschen, denen durch ihr Amt (des Bundespräsidenten) oder ihre Äußerungen ("Der Motor meines ganzen Handelns ist die Gerechtigkeit") ein besonders hohes Maß an moralischer Integrität zugesprochen wird. Und von denen wir besonders enttäuscht sind, wenn wir erkennen, dass sie auch nur Menschen sind, verirrt im Normendschungel.

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