Krise der Europäischen Union:Ein Lob den Iren

Nach dem irischen Nein zum Vertrag von Lissabon sind die Regierungen mit ihrem Latein am Ende: Sie müssen die Bevölkerung über Europa entscheiden lassen.

Jürgen Habermas

Europa muss eigenständig werden - für die "Wiedergeburt" des Kontinents warb der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas 2003, nach dem Irak-Krieg, mit dem französischen Philosophen Jacques Derrida. Nach dem Nein der Iren zum Lissabon-Vertrag redet der 78-jährige Intellektuelle den Regierungen und Parteien ins Gewissen: Sie müssen Europa zu einem lebenswichtigen Thema auf den Marktplätzen machen.

Krise der Europäischen Union: Jürgen Habermas

Jürgen Habermas

(Foto: Foto: ddp)

. . . und alle Räder stehen still.

Die Bauern ärgern sich über sinkende Weltmarktpreise und immer neue Vorschriften aus Brüssel. "Die unten" ärgern sich über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, erst recht in einem Land, wo die Leute nachbarschaftlich zusammenlebten. Die Bürger verachten die eigenen Politiker, die vieles versprechen, aber ohne Perspektive sind und nichts mehr bewegen (können).

Und dann dieses Referendum über einen Vertrag, der zu kompliziert ist, um ihn verstehen zu können. Von der EU-Mitgliedschaft hat man mehr oder weniger profitiert. Warum soll sich dann etwas ändern? Bedeutet nicht jede Stärkung der europäischen Institutionen die Schwächung von demokratischen Stimmen, die doch nur im nationalstaatlichen Raum gehört werden?

Die Bürger spüren den Paternalismus. Sie sollen wieder einmal etwas ratifizieren, woran sie nicht beteiligt waren. Freilich hat die Regierung in Aussicht gestellt, dieses Mal das Referendum nicht wiederholen zu lassen, bis das Volk endlich akklamiert. Und sind die Iren, dieses kleine Volk von Widerständlern, nicht die einzigen im weiten Europa, die überhaupt nach ihrer Meinung gefragt werden?

Sie wollen nicht wie Stimmvieh behandelt werden, das zur Urne getrieben wird. Mit Ausnahme von drei "Nein" sagenden Parlamentsabgeordneten steht ihnen die ganze politische Klasse geschlossen gegenüber. Damit stellt sich gewissermaßen die Politik als solche zur Wahl. Umso größer die Versuchung, "der" Politik einen Denkzettel zu verpassen. Heute ist diese Versuchung überall groß.

Über die Motive des irischen Neins lässt sich nur spekulieren. Dagegen sind die ersten Reaktionen von offizieller Seite eindeutig. Die aufgescheuchten Regierungen wollen nicht ratlos erscheinen, sie suchen nach einer technischen Lösung. Diese läuft auf eine Wiederholung des irischen Referendums hinaus.

Bürokratisch verabredete Notlösung

Das ist der pure Zynismus der Macher gegenüber dem verbal bezeugten Respekt vor dem Wähler - und Wasser auf die Mühlen derer, die munter darüber diskutieren, ob nicht die halbautoritären Formen der andernorts praktizierten Fassadendemokratien besser funktionieren.

Der Vertrag von Lissabon sollte endlich die Organisationsreform nachholen, die der Europa-Gipfel in Nizza, also vor der Erweiterung von 15 auf 27 Mitgliedstaaten, zwar gewollt, aber nicht zustande gebracht hat. Die Osterweiterung hat inzwischen mit dem krasseren Wohlstandsgefälle und der gesteigerten Interessenvielfalt einen entsprechend gewachsenen Integrationsbedarf erzeugt.

Mit den neuen Konflikten und Spannungen können die europäischen Gremien im bisherigen Stil schlecht zurechtkommen. Nach dem Scheitern einer europäischen Verfassung stellte der Lissabonner Vertrag die bürokratisch verabredete Notlösung dar, die verhohlen an den Bevölkerungen vorbei durchgepaukt werden sollte. Mit diesem letzten Kraftakt haben die Regierungen kaltschnäuzig vorgeführt, dass sie allein über das Schicksal Europas entscheiden. Leider mit der lästigen, von der irischen Verfassung vorgeschriebenen Ausnahme.

Auf der nächsten Seite sind ungelöste Probleme ernster zu nehmen als beeinflussbare Stimmungslagen.

Ein Lob den Iren

Schon dieser Vertrag war auf den vorangegangenen Schock bestenfalls eine Antwort mit aufschiebender Wirkung. In Frankreich und den Niederlanden war der Ratifizierungsprozess zu Ende gegangen, noch bevor er die Sollbruchstelle Großbritannien erreicht hatte. Jetzt ist die Verlegenheit noch größer. Business as usual? Oder soll man sich doch der Einsicht stellen, dass die europäische Einigung, wenn sie weitergehen soll, auf einen anderen, einen bürgernahen Politikmodus umgestellt werden muss?

Bis zum Gipfel in Nizza ist dieser Prozess, befördert durch die wirtschaftsliberalen Antriebe, als ein Eliteprojekt über die Köpfe der Bevölkerung hinweg betrieben worden. Seitdem werden die Erfolge der wirtschaftlichen Dynamik zunehmend als Nullsummenspiel wahrgenommen. Es gibt quer durch alle Gesellschaften hindurch immer mehr Verlierer.

Begründete soziale Ängste und kurzsichtige Angstreflexe mögen die labile Stimmung erklären. Aber ungelöste Probleme sind ernster zu nehmen als Stimmungslagen, auf die politische Parteien, wenn sie nur überzeugende Perspektiven anbieten, mit Interpretationen Einfluss nehmen können.

Die gescheiterten Referenden sind ein Signal dafür, dass die europäische Einigung dank ihrer eigenen Erfolge an Grenzen stößt. Diese können nur überwunden werden, wenn die europafreundlichen Eliten sich nicht länger auf die Vorzüge des Repräsentationsprinzips herausreden und ihre Berührungsängste abstreifen.

Die Schere zwischen den nach Brüssel und Straßburg verlagerten politischen Entscheidungsbefugnissen auf der einen und den in den Nationalstaaten verbliebenen demokratischen Beteiligungschancen auf der anderen Seite hat sich zu weit geöffnet.

Verlorengegangene Gestaltungskompetenzen zurückgewinnen

Das ist umso misslicher, als die Kompetenzen zwischen der nationalstaatlichen und der zentralen Ebene ungleichgewichtig verteilt sind. Die sozialpolitischen und kulturellen Nebenwirkungen der erwünschten und europaweit durchgesetzten Marktfreiheiten werden auf Nationalstaaten abgewälzt, denen der Zugriff auf die Entstehungsbedingungen dieser externen Kosten verwehrt ist.

Die Politik könnte also verlorengegangene Gestaltungskompetenzen nur auf der europäischen Ebene zurückgewinnen. Erst dann könnten des einstigen EG-Präsidenten Jacques Delors' verblasste Vorstellungen eines "sozialen Europa" zum Gegenstand eines folgenreichen politischen Streites werden.

Im nächsten Teil verdeckt das pikierte Schweigen der Regierungen den Zielkonflikt, der der europäischen Einigung Perspektive und Ansteckungskraft raubt.

Ein Lob den Iren

Ein Gemeinwesen darf nicht von vornherein so konstruiert sein, dass schon die Anlage des Gebäudes Alternativen zum bisher vorherrschenden Marktliberalismus ausschließt. Allerdings berührt die Frage einer vorsichtigen Harmonisierung der Steuer- und Wirtschaftspolitiken und einer schrittweisen Angleichung der sozialen Sicherungssysteme innerhalb der EU den Konflikt, der unter den Schlagworten der Vertiefung und der Erweiterung die Union seit Jahren lähmt.

Der Preis für das diffuse Erweiterungsprojekt

Das pikierte Schweigen der Regierungen über die Zukunft Europas deckt den Zielkonflikt zu, der der europäischen Einigung seit Jahren die Perspektive und die Ansteckungskraft raubt. Soll Europa zu einem gestaltungsfähigen Akteur werden, der nach innen und nach außen politische Handlungsfähigkeit gewinnt - oder bleibt es bei der zivilisierenden Anziehungskraft eines Erweiterungsprojektes für die Anrainerstaaten, die sich für den Beitritt zu einer immer größeren Union fitmachen?

Der Preis für das diffuse Erweiterungsprojekt ist die fehlende politische Gestaltungskraft in einer ökonomisch zusammenwachsenden Weltgesellschaft, die seit 2001 politisch auseinanderdriftet. Man muss nur die tristen Bilder der Duodezfürsten Brown, Sarkozy und Merkel sehen, die bei Präsident George W. Bush einer nach dem anderen und jeder für sich antichambrieren, dann weiß man, dass sich Europa von der Weltbühne verabschiedet.

Doch die Probleme des Klimawandels, des extremen Wohlstandsgefälles und der Weltwirtschaftsordnung, der Verletzung elementarer Menschenrechte, des Kampfes um knappe Energieressourcen betreffen alle gleichermaßen. Während alle von allen immer abhängiger werden, beobachten wir auf der weltpolitischen Bühne die Verbreitung von ABC-Waffen und eine sozialdarwinistische Enthemmung der Gewaltpotentiale. Müsste nicht ein handlungsfähiges Europa im eigenen Interesse sein Gewicht für eine völkerrechtliche und politische Zähmung der internationalen Gemeinschaft in die Waagschale werfen?

Ein politisches Gewicht, das seinem ökonomischen entspräche, kann Europa nicht erlangen, weil sich die Regierungen über das Ziel der europäischen Einigung uneins sind. An dieser Stelle darf man die Ursachen nicht verwechseln. Zunächst einmal sind es die Regierungen selbst, die nicht weiter wissen und die die Malaise eines lustlos-muffigen Weiter-so verbreiten.

Im letzten Teil dürfen die Regierungen ihren lähmenden Dissens nicht weiter verdrängen.

Ein Lob den Iren

Natürlich gewinnt der Zielkonflikt seine Sprengkraft aus tieferliegenden, historisch erklärbaren Differenzen. Das ist kein Grund zur Kritik an irgendeinem Land. Aber nach dem irischen Signal sollten wir von unseren Regierungen zwei Dinge erwarten. Sie müssen sich eingestehen, dass sie mit ihrem Latein am Ende sind. Und sie dürfen ihren lähmenden Dissens nicht weiter verdrängen. Am Ende bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Bevölkerungen selbst entscheiden zu lassen.

Das bedeutet, dass die politischen Parteien die Ärmel hochkrempeln, damit Europa auf den Marktplätzen zu dem lebenswichtigen Thema wird: Soll aus einem Europa, das in nationalstaatliche Rangeleien zurückgefallen ist, ein innen- und außenpolitisch handlungsfähiges Subjekt werden? Heute wird vorgeschlagen, den Lissabonner Vertrag dadurch zu retten, dass man den Iren einen Teilausstieg aus der Europäischen Union anbietet.

Das nimmt die Entscheidung der irischen Wähler wenigstens ernst, auch wenn diese sich wohl die Augen reiben, weil sie das so gar nicht gemeint haben. Die Erwägung einer solchen Option gibt den richtigen Wink. Ein Kooperationsvertrag mit Mitgliedstaaten, die zeitweise aus der Mitarbeit in bestimmten Institutionen entlassen werden möchten, zeigt, wie man aus der Malaise einen Ausweg finden könnte.

Der Geleitzug, worin der Langsamste das Tempo bestimmt, hat Europa weit gebracht. Von nun an ist es die falsche Gangart. Schon Innenminister Wolfgang Schäubles Vorschlag der Direktwahl eines Unionspräsidenten geht weit über den zögerlichen Lissabonner Vertrag hinaus. Der Ministerrat sollte über seinen Schatten springen und mit den nächsten Europawahlen ein Referendum verbinden.

Mit Engagement und Glück

Die Fragestellung müsste hinreichend klar sein, um eine Richtungsentscheidung zu erlauben. Und die Bürger müssten am selben Tag nach demselben Verfahren zum selben Thema ihre Stimme abgeben können. Ein Fehler der bisherigen Referenden bestand darin, dass die Meinungsbildung im jeweiligen nationalen Kontext gefangen blieb.

Mit Engagement und Glück könnte daraus eine Union der zwei Geschwindigkeiten hervorgehen, wenn sich die Länder, in denen das Referendum angenommen wird, zu einer engeren Kooperation auf Gebieten der Außen- und Sicherheits- sowie der Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammenschließen.

Vor eine Alternative gestellt, würden sich auch die mittel- und südosteuropäischen Beitrittsländer überlegen, wo ihre Interessen liegen. Für die zunächst skeptischen Mitgliedsstaaten könnte ein politisch erfolgreiches Kerneuropa an Anziehungskraft gewinnen. Schließlich würde eine - rechtlich nicht ganz einfache - Innendifferenzierung die strittige Erweiterung der Union erleichtern.

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