Sterbehilfe für Kinder:Todeswunsch als Hilfeschrei

Kind mit Kuschelteddy

Belgien könnte die Sterbehilfe bald auf todkranke Kinder und Jugendliche ausweiten. Dann hätten auch Minderjährige unter bestimmten Umständen das Recht, aktive Sterbehilfe zu verlangen.

(Foto: dpa)

Belgien könnte die Sterbehilfe bald auf todkranke Kinder und Jugendliche ausweiten. Scheinheilig findet der Palliativmediziner Boris Zernikow die Debatte. Im Gespräch mit SZ.de erklärt er, wie man den Todeswunsch kleiner Patienten ernst nehmen kann, ohne ihn umzusetzen.

Von Violetta Simon

Boris Zernikow ist Professor für Kinderpalliativmedizin. Er leitet das einzige Kinderpalliativ-Zentrum Deutschlands in der Kinder- und Jugendklinik Datteln. Die Station verfügt über acht Betten und angegliederte Eltern-Appartements. Um den unheilbar kranken Kindern und ihren Familien eine optimale Lebensqualität zu schaffen, werden möglichst viele Patienten von einem ambulanten Team zu Hause zu betreut. Neben Ärzten und Kinderkrankenschwestern mit einer speziellen Palliativ-Ausbildung kümmern sich auch Psychologen, Therapeuten und Seelsorger um die Patienten.

Süddeutsche.de: Wie beurteilen Sie den Beschluss des belgischen Parlaments?

Die Diskussion in Belgien geht von der Idee aus, man könne Leid nicht lindern, so dass der Tod die einzige Lösung ist. Diese Annahme resultiert aus Unkenntnis - und mangelnder Ausbildung. Sowohl Ärzte als auch Politiker unterliegen dem Trugschluss: Wir töten einen Menschen, weil er sonst nur unnötig leiden müsste. Die Frage ist doch: Was bedeutet das für die Palliativ-Mediziner, wenn man von ihnen verlangt, andere Menschen zu töten? Was macht das mit einer Gesellschaft, die kranke Menschen tötet? Das könnte dazu führen, dass Kranke glauben, sie fallen anderen zur Last - und diesen Weg als naheliegende Lösung wählen. Das finde ich schrecklich.

Süddeutsche.de: Kann die deutsche Gesetzgebung so ein Szenario verhindern?

Wir haben eine optimale Gesetzgebung, die gewährleistet, dass jeder das Recht auf ambulante palliative Versorgung und auch das Beenden lebensverlängernder Maßnahmen hat. Aber die Krankenkassen schaffen es nicht, eine ausreichende Palliativmedizin zu finanzieren. Das ist das Scheinheilige an dieser Diskussion. Die Leute in diesen Einrichtungen sind unterbezahlt oder müssen sich in ihrer Freizeit um diese Kinder kümmern. Wir könnten diese Kinder so versorgen, dass sie nicht unendlich leiden müssen. Das einzige was fehlt, ist eine verlässliche Finanzierung und eine qualifizierte Ausbildung.

Süddeutsche.de: Sollte ein Kind selbst entscheiden dürfen, ob es leben will?

Ein Kind entscheidet immer, ob es leben will. Der Zeitpunkt des Todes erfolgt niemals unabhängig davon und auch nicht zufällig. Ich habe erlebt, dass ein Kind genau dann stirbt, wenn die Mutter, nachdem sie tagelang an seinem Bett gesessen hat, das Zimmer verlässt, um zu duschen. Oder in dem Moment, wenn der Vater endlich aus dem Ausland zurückkehrt und in der Tür steht. Aber auch, wenn die Eltern dem Kind sagen: Du darfst gehen. Dennoch darf man zu einem anderen Menschen nicht sagen: Bring mich um. Ich finde, dass niemand das Recht hat, so etwas zu verlangen. Egal, ob Erwachsener oder Kind.

Süddeutsche.de: Als Palliativmediziner versuchen Sie, das Leid Ihrer Patienten zu lindern. Womit haben die Kinder und Jugendlichen, die Sie betreuen, zu kämpfen?

Es sind weniger somatische Schmerzen, an denen die Kinder leiden. Häufiger werden sie von Schlaflosigkeit und Unruhe geplagt, leiden an Krämpfen, Essstörungen und Durchfall. Krebskranke Kinder haben wir im Vergleich dazu weniger. Bei ihnen spielt Schmerz eine große Rolle, dieser ist aber in der Regel sehr gut behandelbar.

Süddeutsche.de: Was kann Ihr Team für diese Kinder tun?

Viele haben seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen. Wir sorgen dafür, dass die Kinder wieder zur Ruhe kommen. Abgesehen von Medikamenten bieten wir hier psychologische, therapeutische und pädagogische Methoden. Manche verlieren durch eine Schädigung des Gehirns die Fähigkeit, ihre Umwelt wahrzunehmen, sind taub und blind. Dann arbeiten wir mit basaler Stimulation, zum Beispiel legen wir die Kinder auf ein Wasserbett, so dass sie über den Körper die Vibration von Musik aufnehmen können.

Den Todeswunsch ernst nehmen

Deutsches Kinderschmerzzentrum

Boris Zernikow, Chefarzt für Kinderschmerztherapie an der Kinder- und Jugendklinik in Datteln.

(Foto: picture alliance / dpa)

Süddeutsche.de: Hat ein Kind Sie schon einmal gebeten, sterben zu dürfen?

Boris Zernikow: Einmal, ja. Ein Jugendlicher, dessen Wirbelsäule durchsetzt war von einem Tumor. Er hatte schlimmste Schmerzen - in so einem Fall spricht man von Vernichtungsschmerz. Er sagte: "Wenn ihr mir nicht versprechen könnt, dass dieser Schmerz aufhört, müsst ihr mir versprechen, dass ihr mich tötet." Zugleich lehnte er es ab, die Dosis der Schmerzmittel zu erhöhen, weil er sonst nicht mehr in der Lage gewesen wäre, mit seiner Freundin zu sprechen. Die Menschen sind im Sterben irrational, es ist weitaus diffuser, als es die belgischen Politiker vor laufender Kamera darstellen. Was der Junge eigentlich ausdrücken wollte, war: Dieser Schmerz ist nicht auszuhalten.

Süddeutsche.de: Wie sind Sie damit umgegangen?

Wir fanden eine Lösung. Dem Jungen wurde eine computergesteuerte Schmerzpumpe eingesetzt, die ihn auf Knopfdruck für ein bis zwei Stunden sedierte. Dann ging der Schmerz, und er konnte wieder weiterleben. Er wollte etwas haben, dass ihn ausknockt, aber er wollte deshalb nicht sterben. Die Pumpe hat er in den letzten Wochen seines Lebens zweimal benutzt.

Süddeutsche.de: Nahmen Sie seinen Todeswunsch dennoch ernst?

Kinder ernst zu nehmen, bedeutet nicht, genau das zu machen, was sie sagen. Ich kann ihre Wünschen respektieren, ohne diese sofort umzusetzen. Das gilt auch für gesunde Menschen: Wenn ein Mädchen Model werden möchte, muss ich nicht versuchen, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Ich sollte aber versuchen zu verstehen, was hinter dem Wunsch steht. Am besten fragt man danach.

Süddeutsche.de: Welche Motive können dazu führen, dass Kinder sterben wollen?

Das kommt auf das Alter, aber auch auf die Persönlichkeit an. Ich hatte einen Fünfjährigen, der sagte: "Ich weiß nicht, wie es wird, aber ich glaube, es wird schön." Weil er keine Vorstellung vom Tod als unumkehrbarem Ereignis hatte, sondern von einem Zustand. Eine 13-jährige Pubertierende setzt so eine Aussage womöglich ein, um die Eltern unter Druck zu setzen. Andere fühlen sich verantwortlich, wie Scheidungskinder, die glauben, dass es ihre Schuld ist, wenn die Eltern sich trennen. Dann äußern sie einen Todeswunsch, weil sie sehen, dass ihre Eltern nicht mehr können.

Süddeutsche.de: Was brauchen sterbende Kinder?

Kein Mensch sollte alleine sterben, Kinder schon gar nicht. Darüber hinaus benötigen sie eine Versorgung durch Spezialisten. Deshalb ist es so scheinheilig, dass wir abfällig und entsetzt über die Belgier reden, aber es nicht schaffen, eine ausreichende Palliativmedizin in Deutschland zu finanzieren.

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