Zukunft des Kontinents:Über Europa reden - aber ohne Tabus

EU-Flagge

Die europäische Flagge (Symbolbild).

(Foto: picture alliance / dpa)

Seien wir ehrlich: Die deutsche Europa-Debatte ist langweilig und steckt voller Denkverbote. Doch eine ehrliche Diskussion ist entscheidend - sonst vergrößert sich die Distanz zwischen Bürgern und Eliten. Wie belebend ein offener Diskurs wirken kann, zeigen die Niederlande.

Von Thomas Kirchner

Im Amsterdamer Verlag Prometheus/Bert Bakker erschien vor einigen Tagen ein bemerkenswertes Büchlein mit Beiträgen mehrerer Autoren. "Thuis in de Tijd" heißt es, "Zu Hause in der Zeit". Bemerkenswert sind vor allem die Namen der Herausgeber: Geert Mak und Thierry Baudet.

Mak, 67, kennen viele Deutsche als linksliberalen Historiker und Schriftsteller ("In Europa"), der sich oft politisch äußert, meist zu seinem Herzensanliegen: dem gemeinsamen, multikulturellen Europa. Baudet, 31, hierzulande fast unbekannt, steht ganz weit auf der anderen Seite. Der Jurist und Historiker ist ein nationalkonservativer Europakritiker, ein rotes Tuch für Liberale, ein Mann, der sich zwar abgrenzt von Populisten wie Geert Wilders, aber so stark provoziert, dass er sich an der Grenze der Respektabilität bewegt.

Beim jüngsten deutsch-niederländischen Forum in Berlin gelang es ihm innerhalb von fünf Minuten, fast alle Zuhörer im Saal gegen sich aufzubringen. Neben Kolumnen im "NRC Handelsblad" erregte 2012 auch seine Dissertation über die "Bedeutung von Grenzen" Aufsehen, ein Plädoyer für den Nationalstaat, der allein in der Lage sei, unsere Werte zu sichern.

Verlust von Heimat als zentrales Thema

Die Kooperation mit Mak begann, als Baudet im Herbst vergangenen Jahres auffiel, dass sie beide gerade über dasselbe Thema nachdachten: den Verlust der Heimat, das Gefühl der Ortlosigkeit, das Mak schon 1996 in "Wie Gott verschwand aus Jorwerd. Der Untergang des Dorfes in Europa" beschrieben hat. In ihrem Buch ziehen sie nun, mit klaren Worten, unterschiedliche Schlüsse. Mak überlegt, wie das "unvermeidliche" europäische Projekt irgendwie "regionaler" gemacht und dadurch ausbalanciert werden kann, Baudet träumt sich ins Jahr 1958 zurück, zu einem de Gaulle'schen Europa der Vaterländer, ohne den ganzen Brüsseler Apparat.

Dass zwei derartige Antipoden zusammen ein Buch schreiben, ist aus deutscher Sicht ungewöhnlich, wenn nicht sensationell. Es ist, als würden es Habermas und, tja, wer eigentlich, Roger Köppel? miteinander versuchen. Die beiden Holländer wissen um das Ungewöhnliche ihres Tuns: Sie wollen die Sprachlosigkeit zwischen den Lagern überwinden, schreiben sie, es sei Zeit, "aus den Schützengräben zu klettern".

Mutig ist es schon, dass sich Mak mit dem jungen Wilden abgibt. Nach einer Breitseite Baudets gegen das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen forderten acht Intellektuelle das "NRC Handelsblad" kürzlich in einem offenen Brief auf, sie mit dieser "anti-europäischen Rhetorik" fortan zu verschonen. Nichts da, widersprach der Chef der Meinungsseite, die Debatte müsse möglichst breit geführt werden, man werde sonst bei den Europawahlen sehen, wie "die Kritik zurückkommt".

Die Dämonisierung des Populismus funktioniert nicht

Das ist bezeichnend für den europa- und immigrationspolitischen Diskurs in den Niederlanden. Der hat sich gewaltig geändert. Die Niederlande, Gründungsmitglied der EU und der Währungsunion, waren stets europäischer Musterschüler. Dann begann Ex-EU-Kommissar Frits Bolkestein in den neunziger Jahren den breiten Polder-Konsens zu hinterfragen, 2000 demontierte Paul Scheffer die tolerante Einwanderungspolitik mit seinem Essay über das "multikulturelle Drama", kurz darauf brach der Populist Pim Fortuyn alle noch bestehenden Tabus.

Und 2005 rieb sich Europa die Augen, als die Niederländer den EU-Verfassungsvertrag per Volksabstimmung ablehnten. Gewissheiten waren zerfallen, und in jener Zeit entstand, notgedrungen, eine neue, offenere politische Kultur, gerade auch in der Auseinandersetzung mit Fortuyns demagogischen Erben. Die etablierten Parteien lernten, dass es sinnlos ist, Leute wie Wilders zu dämonisieren, sie versuchten gar - vergeblich -, sie einzubinden in die Verantwortung. Das hat zwar den Aufstieg der Populisten nicht verhindert, aber das Explodieren des Kessels. Die Lektion jedenfalls haben viele gelernt: Wenn wir nicht hören und akzeptieren, was die Menschen wirklich umtreibt, verlieren wir sie ganz.

Warum die Warnung vor dem Elitendiskurs berechtigt ist

Ein Politiker, der dieses freiere Denken verkörpert, ist Außenminister Frans Timmermans. Man schaue sich seinen Auftritt bei der Google Zeitgeist Konferenz 2013 an. Mit Humor, aber voller Ernst plädiert der Sozialdemokrat dort für einen auf Ehrlichkeit gegründeten Neuanfang in Europa. Es reiche nicht mehr, den Menschen die finanziellen Vorteile des Binnenmarkts anzupreisen, man müsse auch die Schattenseiten der Integration ansprechen und die Solidarität, die Europa von allen fordere. Eindringlich warnt Timmermans vor jenen europäischen Eliten, die immer genau zu wissen meinen, wohin die Reise gehen müsse.

Das sind nur Worte, doch es gibt auch Taten: Im vergangenen Jahr nannte Timmermans mehrere Dutzend Politikbereiche, bei denen zu prüfen sei, ob sie wirklich supranational entschieden werden müssten. Grundsätzlich gilt: Den Haag macht nicht mehr automatisch alles mit, was aus Brüssel kommt; man ist skeptischer, aber nicht ideologiegetrieben wie die Briten.

Und Deutschland? Wer wissen will, wen Timmermans' Elitenkritik meint, lese das Zwiegespräch, das der Soziologe Ulrich Beck und BR-Intendant Ulrich Wilhelm vor Wochen im FAZ-Feuilleton führten. Da schieben sich zwei Bescheidwisser die Bälle zu, in einer bürokratischen Sprache, die einen zum Gähnen oder zum Heulen bringt. "Weithin geteilt", sagt Wilhelm, werde "die Ansicht, dass der Nationalstaat nicht mehr ausreicht, die Interessen seiner Bürger zu bedienen". "Kompetenzübertragungen" gen Brüssel müssten her, und Politiker und Medien müssten "dann auch gemeinsam eine europäische Öffentlichkeit herstellen". Warum nicht "Vereinigte Fernsehanstalten von Europa" schaffen?, fragt Beck.

Die langweilige deutsche Debatte

Was und wie die beiden reden, ist Lichtjahre entfernt von den Problemen, die die Menschen gerade mit Europa haben. Aber es ist symptomatisch für die verdruckste, auf Ökonomie und Institutionen fixierte und letztlich langweilige deutsche Europa-Debatte, die voller Denkverbote steckt.

Beispiele: Warum wundert sich keiner über die drei Herren, die als Spitzenkandidaten der europäischen Parteien bei der Europawahl die große demokratische Erneuerung herbeiführen sollen? Juncker, Schulz, Verhofstadt, die noch nie etwas anderes getan haben, als Europa zu glorifizieren? Warum müssen uns britische Medien auf die Absurdität dieser Personalien hinweisen ("Yesterday's Men"), die dadurch noch unterstrichen wird, dass sich Angela Merkel in Wahrheit natürlich doch die Entscheidung darüber vorbehält, wer am Ende Kommissionspräsident werden darf, egal, wie die Wahl ausgeht?

Warum werden die Euro-Skeptiker von der Alternative für Deutschland in den meisten Medien pauschal verlacht oder gleich unter Faschismusverdacht gestellt? Auch wenn sie falsch liegen mit ihrem D-Mark-Nationalismus und schwarze Schafe in ihren Reihen haben, die chauvinistischen Unsinn reden: Man muss ihnen mit Argumenten begegnen, nicht nur mit Häme. Die Merkel-Regierung erfährt so erschütternd wenig parlamentarischen Widerspruch gegen ihren Europa-Kurs, dass man sogar versucht ist, sich die AfD in den Bundestag zu wünschen.

Warum gibt es keinen salonfähigen Rechtsintellektuellen?

Wie passt der nach der Schweizer Abstimmung geäußerte Satz von Innenminister de Maizière, die meisten Deutschen hätten mit der Zuwanderung "überhaupt kein Problem", zum Ergebnis einer neuen Umfrage, wonach auch hierzulande eine Mehrheit die Zuwanderung begrenzen möchte? Es sind anscheinend nicht nur die Schweizer, die spinnen. Schönreden hilft da nicht.

Und warum muss eigentlich immer der Schweizer Köppel eingeflogen werden, um die nationale Sicht der Dinge zu vertreten? Dass es hier keine salonfähigen Rechtsintellektuellen gibt, hat natürlich mit der deutschen Vergangenheit zu tun, aber es schadet der Diskussion.

Auch wenn ihre Position falsch ist, sollte sie vorkommen, weil sie von vielen geteilt wird. Sonst vergrößert sich noch die Distanz zwischen den Bürgern und den (links-)liberalen Eliten, jene Entfremdung, die Ian Buruma in der "Zeit" als wesentlichen Grund für den immensen Zulauf der Populisten in Europa genannt hat. Die Händler der Angst haben leichtes Spiel, weil sie mit ihren simplen Parolen als Einzige Zugang zum Herzen der Leute finden.

Niemand kann gegen die Bürger regieren

Die Zustimmungswerte für Europa sind überall bedenklich gesunken, ein Trend, der übrigens schon lange vor der Währungskrise einsetzte. Europa muss neu begründet, neu aufgebaut werden. Nicht mehr nur von den Eliten, die das Europa geformt haben, das jetzt so stark beschädigt ist, sondern von allen, von emanzipierten Europäern. Ob mit oder ohne Euro, lässt sich noch nicht sagen.

Am Ende wird es Volksabstimmungen über die europäische Zukunft geben müssen, auch in Deutschland; und sie werden schwierig zu gewinnen sein, wenn der Diskurs über Europa nicht offener und ehrlicher wird. Auf Dauer kann man, selbst wenn man es gut meint, nicht gegen die Bürger regieren - und gleich gar nicht ein so ehrgeiziges und notwendiges Projekt wie die europäische Einigung vollenden.

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