Zum Tod von Klaus Michael Grüber:Der Wanderer

Jeanne Moreau, Bruno Ganz und Anselm Kiefer - der Regisseur Klaus Michael Grüber war ein Mittler zwischen den Welten. Der Mensch, unterwegs zu sich selbst: Zum Tod des Regisseurs Klaus Michael Grüber.

Klaus Dermutz

Die Pilger kauern erschöpft an der Klostermauer. Ein Begräbniszug zieht vorüber, auf der Bahre liegt ein Skelett. Der Tod bricht ins Leben ein und errichtet eine Wand aus Schweigen.

Zum Tod von Klaus Michael Grüber: Wegweisend für das zeitgenössische deutsche Theater: der verstorbene Regisseur Klaus Michael Grüber.

Wegweisend für das zeitgenössische deutsche Theater: der verstorbene Regisseur Klaus Michael Grüber.

(Foto: Foto: dpa)

Der Zar Boris Godunow tritt auf mit der Selbstverständlichkeit des Machthabers. Doch eine kleine Unsicherheit in der Bewegung gibt seinen inneren Zustand preis.

Es ist die Erinnerung an die Ermordung des Zarewitsch, die ihn nicht los lässt. An der Klostermauer ist ein Engel erschienen, einen Flügel hat er ausgebreitet, den anderen zur Erde geneigt.

Klaus Michael Grübers "Boris Godunow", der 2006 im Brüsseler Théâtre de la Monnaie Premiere hatte, schließt den schuldig gewordenen Zaren in ein tiefes Mitleid ein.

Die Inszenierung, die vor kurzem noch einmal am Zürcher Opernhaus zu sehen war, wird von jener Verdichtung des menschlichen Schicksals und einer Anteilnahme bestimmt, die fast alle seine Arbeiten auszeichnen: eine bewegende Einfachheit, die aus dem Mitgefühl kommt. Exemplarisch spiegelt sie Grübers Credo wider, dass das Theater durch die Tränen gehen müsse.

Klaus Michael Grüber wurde 1941 in Neckarelz geboren. Nach dem Studium an der Stuttgarter Schauspielschule erhielt er von 1962 an als Assistent von Giorgio Strehler am Mailänder Piccolo Teatro seine Ausbildung zum Regisseur.

"Ich habe", so Grüber in Cordelia Dvoráks Monographie "Passione teatrale. Giorgio Strehler und das Theater", "das Glück gehabt, am Theater zu einer Zeit anfangen zu können, in der das Theaterhandwerk noch erlernt werden konnte. Heutzutage lernt man nichts mehr, man erfindet nur noch. Noch heute bin ich davon überzeugt, dass das Theater zu 95 Prozent aus Gesetzen besteht, die man erlernen, wissen muss. Wenn man diese Gesetze bricht, brechen will, manchmal brechen muss, ist es notwendig, sie zu kennen."

Unüberwindliche Nähe

Sein Debüt gab Grüber mit "Der Impresario von Smyrna" 1967 in Freiburg. Bei dem Brecht-Stück "Der Prozess der Jeanne d'Arc zu Rouen 1431" führt Grüber als erster Ausländer 1968 am Piccolo Teatro Regie.

In Deutschland war Grübers Arbeit zunächst eng mit dem Intendanten Kurt Hübner verbunden, der den Regisseur 1969 nach Bremen einlud, um den "Sturm" zu inszenieren. In Bremen führte Grüber bei Alban Bergs "Wozzeck" zum ersten Mal auch in der Oper Regie. Zum Abschluss von Hübners Intendanz inszeniert er mit Bernhard Minetti "Das letzte Band".

Peter Stein gewann Grüber Anfang der siebziger Jahre als Hausregisseur für die Schaubühne. Nach der Inszenierung von Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald", in der jede Sentimentalität vermieden wurde, und nach der Brecht-Inszenierung von "Im Dickicht der Städte", in der Eduardo Arroyo die Bühne mit Hunderten von alten Schuhen bedeckte, erarbeitetet Grüber mit den Malern Arroyo und Gilles Aillaud Euripides' "Bakchen".

Die Inszenierung, die sich auf die destruktiven Kräfte eines dionysischen Lebens fokussierte, trug entscheidend zum Ruhm der Schaubühne bei. Grüber prägte neben Peter Stein, Luc Bondy und Robert Wilson von 1972 bis zu seiner letzten Schaubühnen-Inszenierung 1998, Goethes "Iphigenie auf Tauris" mit einer anarchistischen Angela Winkler in der Titelrolle, über 25 Jahre wesentlich diese Bühne mit.

Die Tschechow-Inszenierung von "An der großen Straße", 1984 in der Kreuzberger Probebühne der Schaubühne, war einer der Höhepunkte von Grübers Laufbahn.

n Tschechows dramatischer Skizze zeigt er die Menschen auf ihrer irdischen Wanderschaft, einsam, verstört, von einer tiefen Sehnsucht durchdrungen, dass das Leid ein Ende haben mögen.

Seine 1984 an der Comédie Francaise erarbeitete "Bérénice" führte zu einer Racine-Renaissance im europäischen Theater. Mit Bernhard Minetti verband Grüber nach der ersten Begegnung in Bremen eine enge Beziehung.

Minetti spielte 1985 an der Schaubühne die Titelrolle in "König Lear", 1987 folgte in Frankfurt eine zweite Annäherung an Becketts "Letztes Band", und 1991 spielte Minetti an der Schaubühne den Casanova in Maria Zwetajewas "Phoenix", der im hohen Alter von der Liebe zu der 13-jährigen Franziska (Karoline Eichhorn) ergriffen wird.

Im Zentrum von Grübers Theater sah man Menschen, die allein durchs Leben gehen und sich in der Weite des Universums verlieren. Grübers Menschen suchen die Nähe, müssen jedoch erkennen, dass es eine wirkliche Begegnung nur für Momente gibt.

Danach sind sie wieder auf sich selbst zurückgeworfen und setzen ihren Weg fort. Grüber begleitete sie auf ihrer Wanderschaft. Seine Protagonisten suchten Gott und hofften auf Gnade.

Lesen Sie auf Seite 2 über die Inszenierung des Scheiterns.

Der Wanderer

Die lebenslange Wanderschaft war auch das zentrale Themas seines "Faust-Salpêtrière", den er 1975 im Hôpital de la Salpêtrière inszenierte. Grüber erinnerte an diesen Ort der von der Gesellschaft ausgeschlossenen Kranken und rückte das Los von Faust in die Nähe der von ihrer Unruhe getriebenen Menschen.

Das Thema der unerlösten Wanderschaft beschäftigte Grüber auch in seiner zweiten "Faust"-Inszenierung, 1982 an der Berliner Freien Volksbühne. Im Schlussbild brach Faust zu seinem letzten Weg mit einer gefassten inneren Haltung auf. Auf dem Rücken trug Minetti einen einfachen Rucksack, seine linke Hand umschloss einen langen, knorrigen Wanderstock.

Die widersprüchlichen Erfahrungen eines Lebens gaben Faust die Kraft, den letzten Weg mit einer zugleich beklemmenden und erlösenden Geradlinigkeit zu Ende zu gehen. Nachdem Faust sich entschieden hatte aufzubrechen gab es keinen Blick zurück.

Unbeirrbare Liebe

Grüber genoss stets die besondere Wertschätzung der Schauspieler. Für Angela Winkler war Grüber ein Regisseur der Stille, für Jutta Lampe - sie spielte seine Marianne, Ophelia und Alkmene - war Grüber ein großzügiger Mensch, der seiner Intuition vertraute.

Mit Jeanne Moreau hatte Grüber 1986 im Théâtre Bouffes du Nord "Le recit de la servante Zerline" erarbeitet und in der Zerline eine Frau gesehen, die der Liebe unbeirrbar folgt.

Für Bruno Ganz hatte Grüber die singuläre Fähigkeit, Inbilder von Lebenssituationen zu schaffen. Minettis Faust mit dem Wanderstab ist für Ganz ein solches Inbild, in dem das Schicksal des Menschen aufscheint.

Grüber ging am Beginn seiner Regielaufbahn auf Maler zu, um sie fürs Theater zu gewinnen. Mit Eduardo Arroyo, Gilles Aillaud, Francis Biras, Antonio Recalcati, Titina Maselli verband ihn eine jahrzehntelange Zusammenarbeit.

Später nahm er Kontakt zu Anselm Kiefer auf, der 2003 für "Ödipus in Kolonos" am Burgtheater und "Elektra" am Teatro di San Carlo die Bühnenbilder und Kostüme entwarf. Grüber nahm die Visionen der Maler an und entwickelte seine Regie danach. Das verlieh seinen Arbeiten die Leichtigkeit und Dichte eines poetischen Realismus.

Die Vorstellung, dass Theater sich nur in dafür reservierten Räumen ereignen könne, war Grüber fremd. Die zentrale Idee der Passage und ihrer Transformation setzte er auch an anderen Orten um.

Für die "Winterreise", entstanden 1977 nach Textfragmenten von Hölderlins Roman "Hyperion", wählte Grüber das Berliner Olympiastadion, das die Nazis zur Darstellung ihrer Macht erbaut hatten.

"Rudi", nach dem Roman von Bernard von Brentano, wurde 1979 im Hotel Esplanade gezeigt, in unmittelbarer Nähe der Berliner Mauer. Die Uraufführung von Jorge Semprúns "Bleiche Mutter, zarte Schwester" realisierte Grüber 1995 auf einem Sowjetischen Soldatenfriedhof am Rande von Weimar, und Ödön von Horváths "Don Juan kommt aus dem Krieg" inszenierte er 2000 mit einer Gruppe von jungen Schauspielern aus Peter Steins "Faust" am Stadtrand von Hannover.

Grüber suchte immer wieder den öffentlichen Raum, um den Spuren der Geschichte zu folgen. Sein Theater des Eingedenkens war aufs Engste mit historischen Orten verknüpft.

Theater des Eingedenkens

Ein tiefer Riss geht durch die Menschen, die Grüber auf der einsamen Spur ihres Lebens begleitete. Seine Inszenierungen, die fast alle in Zusammenarbeit mit seiner Mitarbeiterin Ellen Hammer entstanden, waren von der Erfahrung des Scheiterns bestimmt, von Verlust und Verlöschen.

Im Untergang scheint freilich ein Gegenbild auf, dass der Tod nicht das Letzte sei. In der Uraufführung von Vladimir Nabokovs "Der Pol", 1996 an der Schaubühne, richtete sich im Schlussbild der gescheiterte Captain Scott (Bruno Ganz) auf und hielt sich an der Zeltstange fest. Der letzte Blick ging über eine vom Nordlicht illuminierte Landschaft aus Schnee und Eis.

Das letzte Bild der letzten Inszenierung: In Busonis Oper "Doktor Faust", 2006 in Zürich, wurde Thomas Hampsons Abgang in die Tiefe und Finsternis durchkreuzt von einem nackten Jüngling, der andächtigen Schritts die Bühne überquert und auf den ausgestreckten Armen einen großen grünen Zweig hält wie ein kostbares Gut.

So evozierte Grüber das Bild von Tod und Auferstehung -im sich kreuzenden Abgang von Doktor Faust und dem Erscheinen eines nackten, bloßen Menschen. In der Nacht zum Montag ist Klaus Michael Grüber nach langer Krankheit auf der bretonischen Insel Belle-Ile-en-Mer im Alter von 67 Jahren gestorben.

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