Gusenbauer im Interview:"Die Österreicher haben oft den Eindruck, sie kommen zu kurz"

Österreichs Kanzler Gusenbauer im SZ-Interview über seinen radikalen Schwenk in der EU-Politik - und wie er so die Europa-Skeptiker in seinem Land erreichen will.

Michael Frank

Österreichs sozialdemokratischer Bundeskanzler Alfred Gusenbauer und der geschäftsführende SPÖ-Vorsitzende Werner Faymann haben einen radikalen Schwenk in der Europapolitik vollzogen: In einem Brief an den Herausgeber des größten österreichischen Massenblattes, der Kronen Zeitung, kündigten sie an, künftige Europa-Verträge nationalen Referenden zu unterwerfen.

Alfred Gusenbauer; AP

Alfred Gusenbauers Schwenk in der Europapolitik rief viel Unmut in der Koalition hervor.

(Foto: Foto: AP)

SZ: Herr Bundeskanzler, warum dieser Totalschwenk - gegen die überwältigende Mehrheit der EU-Länder, in denen die Parlamente über Verträge befinden?

Alfred Gusenbauer: Es gibt eine Art Erosion von unten und eine enorme soziale Unzufriedenheit mit Europa. Die Menschen haben den Eindruck, der wachsende Reichtum geht an vielen von ihnen vorbei. In Österreich hat die Skepsis deshalb enorme Dimensionen angenommen.

SZ: Warum ausgerechnet in Ihrem wohlhabenden Land?

Gusenbauer: In Österreich werden die EU und ihre Institutionen für vieles, für das sie nichts können, zum Sündenbock gemacht. Das Schema: Alles Gute hat man selbst, alles Schlechte die EU bewirkt. In Österreich haben wir zwar enormes Wachstum, aber die Einkommensungleichheiten nehmen weit stärker zu als anderswo. Die Österreicher haben oft den Eindruck, sie kommen zu kurz. Vieles, das sich für das Land positiv ausgewirkt hat, EU-Erweiterung, die wirtschaftliche und friedenspolitische Erfolgsgeschichte, wurde bei uns unter dem Prätext der Ängste diskutiert: Massenzuwanderung, Kriminalität. Deshalb ist einer der größten Profiteure der EU so skeptisch.

SZ: Haben Sie und der designierte SPÖ-Vorsitzende Werner Faymann Ihre Kehrtwendung vollzogen, um der eigenen Partei das Überleben zu sichern?

Gusenbauer: Wir haben in Österreich nur noch 28 Prozent Zustimmung zur EU, ein Drittel harte Gegner und dazwischen die Skeptiker. Wenn man sich nicht um die Skeptiker kümmert, hat man bald 50 Prozent oder mehr harte Gegner.

SZ: Sie sagen selbst, viele Vorbehalte seien realitätsfern. Ist es klug, die Entscheidung darüber denen zuzuschieben, die solche Verträge nicht verstehen?

Gusenbauer: Absolut. Wir haben den Vertrag von Lissabon ratifiziert, der Bundespräsident hat ihn unterschrieben. Wenn ich künftig ein Referendum anberaume, ist das eine der wenigen Möglichkeiten, die versammelte politische Klasse zu zwingen, sich direkt mit der Bevölkerung auseinanderzusetzen. Ohne diesen Zwang geschieht das offensichtlich nicht. Außerdem hören einem dann die Skeptiker wieder zu. Das Signal lautet: Wir wollen mit euch neu in einen sehr ernsthaften Dialog treten. Nicht wir allein entscheiden, sondern alle gemeinsam. Da werden verstopfte Ohren wieder für Argumente empfänglich.

SZ: Sind nicht Volksabstimmungen der Versuch, parlamentarische Verantwortung auf die Bürger abzuwälzen?

Gusenbauer: Das ist völlig falsch. Ich übernehme zusätzlich zum parlamentarischen Weg die Verpflichtung, auch die Bevölkerung zu überzeugen. Ich schiebe keine Verantwortung ab. Ich lade mir im Gegenteil eine bedeutend größere auf.

SZ: Ihr Entschluss war einsam, ohne parlamentarische und Partei-Gremien. Ist das vorbildliche Demokratie?

Gusenbauer: In der Sozialdemokratie gibt es dazu schon lange Diskussionen, unter Abgeordneten, im Präsidium. Zu sagen, das wäre ein einsamer Akt zweier Weiser, oder vermeintlich Weiser, gewesen, wäre also falsch.

"Die Österreicher haben oft den Eindruck, sie kommen zu kurz"

SZ: Sie sagen, Sie fürchten das Volk nicht. Fürchten Sie sich vor der Neuen Kronen Zeitung und deren Herausgeber Hans Dichand? Wieso diese Unterwerfungsgeste - die Wende der Zeitung anzukündigen anstatt den Bürgern direkt?

Gusenbauer: Öfter senden mir Herausgeber verschiedener Zeitungen Leserbriefe zu und laden mich ein, dazu Stellung zu nehmen. Ich habe das schon oft getan. Die Kronen Zeitung, das größte Blatt des Landes, bietet sich besonders vielen Gegnern und Skeptikern als Plattform an. So schien sie mir das geeignete Forum.

SZ: Was sollen mündige Bürger davon halten, dass ihnen ihr Bundeskanzler Europa-Entschlüsse über ein Boulevardblatt zutragen lässt, das die erste Geige im Anti-EU-Konzert spielt?

Gusenbauer: Ich stehe zu dem Brief. Ich glaube, man muss dort hingehen, wo die Skeptiker sind. Auch jene, die nicht zu den Kronen-Zeitungs-Lesern zählen, hatten noch am selben Tag eine Menge Möglichkeiten, sich zu informieren.

SZ: Entspricht das mit dem Leserbrief der Würde des Bundeskanzlers?

Gusenbauer: Man muss manchmal den Rubikon überschreiten und in die Reihen der Gegner treten.

SZ: Soll das auch für kommende Zeiten stilbildend sein?

Gusenbauer: Da werde ich erfindungsreich sein.

SZ: Außenministerin Ursula Plassnik von der ÖVP scheint einem politischen Erpressungsversuch durch den Krone-Herausgeber ausgesetzt gewesen zu sein. Sie hat widerstanden. Sieht es nun nicht so aus, als wären Sie und Faymann einem ebensolchen Erpressungsversuch erlegen?

Gusenbauer: Niemand hat uns erpresst. Ich habe aus freien Stücken diesen Weg gewählt. Aus der Darstellung der Außenministerin ergibt sich, dass ihr Herr Dichand ein "unsittliches Angebot" gemacht hat, wie sie betont. Er hat ihr mitgeteilt, dass er die ÖVP unterstützen wird, wenn diese ihre Haltung in Sachen Lissabon-Vertrag ändert. Das ist nicht unbedingt ein Erpressungsversuch. Sie hat das Angebot nicht angenommen. An mich hat es kein Angebot gegeben.

SZ: Können Sie das auch für Faymann ausschließen, der Herrn Dichand immerhin "Onkel Hans" nennt?

Gusenbauer: Die hatten schon immer ein herzliches Verhältnis. Für mich ist interessant, dass es scheinbar einen bereits längeren Gesprächs- und Verhandlungsprozess zwischen dem Herausgeber der Kronen Zeitung und der Frau Außenministerin gegeben hat. Sie hat uns nur mitgeteilt, worauf sie sich nicht geeinigt haben. Vielleicht teilt sie uns auch mit, worauf sie sich geeinigt haben.

SZ: Haben Sie es auf ein Bündnis mit der rechtspopulistischen FPÖ abgesehen, die die Volksabstimmung schon lange fordert?

Gusenbauer: Ganz im Gegenteil. Jetzt stehen wir in weit höherem Ausmaß in Konkurrenz zur FPÖ, weil die EU-Skeptiker ihr nun nicht mehr wehrlos ausgeliefert sind, sondern wir ihnen ein Dialogangebot machen. Wir haben den Zuwachsprozess der FPÖ jetzt mit Sicherheit gebremst, wenn nicht gestoppt.

SZ: Die Forderung nach Volksabstimmungen lehnen ÖVP und Grüne vehement ab. Mit wem außer der FPÖ können Sie dann noch koalieren?

Gusenbauer: Bei uns gibt es keinerlei Diskussion, sich gegenüber der FPÖ zu öffnen. Die Partei diskutiert das nicht und hat da nichts vor.

SZ: Können Sie garantieren, dass die SPÖ nicht mit der FPÖ koalieren wird?

Gusenbauer: Ich bin zwar nicht mehr Parteivorsitzender, aber das wird sicher nicht in Erwägung gezogen.

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