Real und Atlético Madrid:Zwei Seelen in einer Hauptstadt

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Reals Cristiano Ronaldo (links) und Atléticos Diego da Silva Costa (rechts): Das letzte Aufeinandertreffen im März endete 2:2.

(Foto: AFP)

Atlético hat mehr Herz als Geld, bei Real reicht manchmal selbst das Gewinnen nicht aus: Für zwei Tage rückt Madrids Fußball-Rivalität ins Zentrum der Sportwelt. Die Vereine stehen beide im Halbfinale der Champions League - doch sie trennen Welten.

Von Oliver Meiler, Madrid

Von Gott zu Göttin, von Neptun zu Kybele, sind es nur einige hundert Meter, den prächtigen Paseo del Prado rauf. Und wenn die Bäume in der Mitte der Allee auch noch im süßen Grün des Frühlings stehen, wie jetzt wieder, dann deutet nun wirklich nichts auf die Niedrigkeiten, die sich auf diesem Stück eleganter Flaniermeile im Zentrum von Madrid zuweilen zutragen. An beiden Enden. Wahrer Vandalismus. Kybele, die Göttin der Fruchtbarkeit, erlitt schon schwere Verletzungen an Leib und Karren, auf dem sie da kutschiert. Und Neptun, dem Meeresgott, haben sie schon so oft den Dreizack gestohlen, dass man sich in der Stadtverwaltung fragen sollte, ob es denn sinnvoll ist, ihm immer wieder einen neuen zu geben.

"Neptuno" und "Cibeles", wie die beiden Monumentalbrunnen am Prado auf Spanisch heißen, sind die Triumphstätten und Referenzpunkte im sentimentalen Koordinatensystem des Madrider Fußballs. Gewinnt Atlético Madrid mal etwas, dann feiern seine Fans rund um den Neptunbrunnen. Gewinnt Real Madrid schon wieder etwas, dann strömen und pilgern die Seinen zur Plaza de Cibeles. Als wohnte jedem Triumph, jedem großen Sieg auch eine Note Göttlichkeit inne. Und das tut es natürlich.

Die Vandale-Akte sind Neidattacken, profane Belege dafür, wie ernst es dieser Stadt mit dem Fußball ist, wie sehr die Rivalität alles durchdringt, auch die Deutung der Geschichte, die Politik, sogar das Königshaus. Aber dazu später.

In diesen Tagen gibt Madrid die ganz große Bühne des Fußballs, europäisch und global, mit zwei Halbfinals der Champions League binnen 24 Stunden. So wollte es der Zufall der Auslosung, die den beiden Madrider Vereinen je ausländische Gegner, den FC Chelsea und den FC Bayern, bescherte. Und Hinspiele zu Hause.

Spanien war in den vergangenen Jahren oft doppelt präsent in der Endphase der Königsklasse, immer aber mit Real und dem FC Barcelona, den beiden nationalen Fußballmächten. Doch diesmal schreibt das schöne, überraschende Kapitel dieses Wettbewerbs Atlético, ein Team mit mehr Herz als Geld. Und das ist nur eine Falllinie zwischen den Welten der beiden Madrider Vereine. Sie sind Antagonisten im engsten Wortsinn und in fast allem, sie sind das Fußball gewordene Nord-Süd-Gefälle.

Mit Blick auf die M30

Unten, im etwas ärmeren Süden Madrids, am Flussufer des Manzanares, gerade noch innerhalb der Ringautobahn M30, steht das Stadion von Atleti, das Vicente Calderón, 55 000 Plätze, benannt nach dem legendären Vereinspräsidenten. Es ist kein schönes Stadion, nicht im klassischen Sinn. Drei Viertel sind ungedeckt. Und an den Seiten der nüchternen, ältlichen Haupttribüne ist das Rund offen, da sieht man direkt auf die M30, die sich röhrend unter den besten Plätzen durchwindet. Bei Abendspielen kann das ganz schön irritieren: Da blendet den Zuschauer auf der Haupttribüne auch schon mal das Scheinwerferlicht der Autos. Doch das kümmert drüben, auf den billigeren Plätzen, niemanden.

Die Colchoneros, die Matratzenmacher, wie die Fans von Atlético wegen der rot-weißen Trikotstreifen heißen, die in Muster und Farbe an die Bettmatratzen aus fernen Zeiten erinnern, sind gerne laut und chaotisch. Sie sehen sich selbst als die leidenschaftlichsten Aficionados im Land, und das wohl zu Recht. Im Calderón, einer Schwitzbude des Fußballs, sitzen nur selten Touristen, Ort und Dekor passen schlecht in ein Sightseeing-Programm.

Ganz anders die Betonarena ganz oben im reichen Norden der Stadt, das Stadion Santiago Bernabéu im Viertel Chamartín, wo auch die Bürotürme der Banken und der Multinationalen stehen, wo die Botschafter residieren, wo alles chic und teuer ist. Kein Touristenbus verpasst diesen Halt. Das Bernabéu, erbaut 1947, ist mehr ein Tempel als ein Sportplatz.

Im fensterlosen Stadionbauch, im Museum, stellt der Verein seine Trophäen aus, das Schuhwerk seines einstigen Chefpredigers Alfredo Di Stéfano etwa, die Bilder der großartigen Messdiener Zidane, Raúl, Ronaldo, Beckham. Die Schüssel gemahnt auch an ein Opernhaus, eines für 84 000 Besucher, mit Logen und einem vorzüglichen Restaurant mit Rasensicht, dem "Puerta 57". Die offizielle Vereinshymne, "Hala Madrid!", ist eine Arie, gesungen von Plácido Domingo. So inszeniert der Verein seinen Gestus. Das Publikum ist verwöhnt, Ästhetik ist ihm mindestens so wichtig wie das Siegen. Die Madridistas pfeifen auch schon mal beim Stand von 4:0, wenn ein Pass misslingt, als wäre er ein Misston in der großen Symphonie von Real Madrid. Oder eben einfach nur von: "El Madrid".

So nennt man in Spanien die Königlichen seit der Zeit vor 1920, als der Verein noch ohne royalistischen Zusatz auftrat, sondern nur als Madrid Football Club. Die Verkürzung "El Madrid" spiegelt natürlich auch den Anspruch auf die städtische Herrschaft. Glaubt man den Schätzungen, dann fiebern siebzig Prozent der Madrilenen mit Real und dreißig Prozent mit Atlético. König Juan Carlos I. ist ein "Merengue", wie sich die Fans von Real auch nennen, so weiß wie Trikot und Schaumgebäck. Sein Sohn dagegen, Kronprinz Felipe, ist ein bekennender Matratzenmacher. Wie stark dieses Bekenntnis des Thronfolgers der politischen Opportunität geschuldet ist, bleibt zu klären. Wahrscheinlich nicht ganz unwesentlich. Ungeklärt und strittig bleibt auch die alte Frage, welcher Verein in den Jahren der Diktatur franquistisch war - oder franquistischer.

Jubel und Neid liegen so nahe beieinander

Zirka zehn Jahre lang, von 1936 bis 1947, liefen die Rojiblancos als "Atlético de Aviación" auf, als Standartenträger von Francos Luftwaffe also. Die hatte auch Real ein Angebot zur Fusion unterbreitet, doch es wollte nicht. Franco interessierte sich nie sonderlich für Fußball, er war Angler und Jäger. Als dann aber Real Madrid immer erfolgreicher wurde, entdeckte der General das Propagandapotenzial des Vereins, ließ sich öfters auf der Ehrentribüne des Bernabéu sehen, spielte Madrid auch fußballerisch gegen das ungeliebte Barcelona aus. Die Presse des Regimes feierte den Verein als nationale Ikone, als strahlendes Exempel für die spanische Bravour in der Welt. Vielleicht standen auch die Schiedsrichter in Francos Befehlslinie. Allzu laut sollte man darüber aber nicht spekulieren, sonst fehlt der Kybele bald wieder eine Hand oder der Kutsche ein halbes Rad.

War Real mehr Opfer von Francos Vereinnahmung oder mehr opportunistischer Nutznießer? Für Madrids schreibende Linksintellektuelle war der Verein jedenfalls bis zu Francos Tod tabu. Dann wurde er zum Seitenwagen der "Movida", diesem bunten und fröhlichen Aufbruch der Stadt in Freiheit und Moderne. Real verwandelte sich zusehends zum reichsten und glamourösesten Verein der Welt, dann zum Klub der "Galaktischen", der Ball und Business in unerforschte Sphären beförderte.

"Atleti" dagegen, 1903 von baskischen Studenten als Madrider Filiale von Athletic Bilbao gegründet, blieb in der kollektiven Wahrnehmung der Verein der Arbeiterklassen, des kleinen Volkes, die linke Antithese zum großbürgerlichen Real gewissermaßen. Der selbstbemitleidende Mythos des ewigen Zweiten hält der Wirklichkeit jedoch nur leidlich stand: Auch Atlético hatte seine sportlich gloriosen Zeiten, gewann immerhin schon neun nationale Meistertitel, zehn Pokalwettbewerbe und etliche europäische Trophäen. Und in Jesús Gil y Gil, einem schillernden Baulöwen, hatte es von 1987 bis 2003 auch so eine XXL-Figur als Patron, der den Verein an den Rand des Ruins trieb und obendrein mit rassistischem und faschistischem Gebaren in Verruf brachte.

Nun ist man zurück, auch moralisch, zweite Seele der Hauptstadt, ja der Welthauptstadt des Fußballs. Madrid ist nicht mehr nur "El Madrid". Die Spanier mögen diese Geschichte des vermeintlichen Underdogs, der sich mit Biss und Mut in die Elite kämpft. Noch ist nicht klar, wie lange der Zustand dauern wird.

Doch "Neptuno" sollten sie schon mal mit hohen Gittern einzäunen, "Cibeles" auch. Das tun sie immer in Madrid, wenn Triumph und Niederlage die Gemüter bewegen, Jubel und Neid. Sie liegen so nahe beieinander.

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