Risikobericht zu Nuklearwaffen:Ganz dicht an der Explosion

Fehlalarme, technische Defekte, verlegte Zündungscodes: Unzählige Male ist die Welt nur haarscharf an einer weiteren Atombombenkatastrophe vorbeigeschrammt. Das zeigt der Bericht einer britischen Forschungseinrichtung auf. Besonders bedrohlich: Die Gefahr eines nuklearen Unfalls sei in den vergangenen Jahren noch gestiegen.

Seitdem im August 1945 die Atombomben über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki explodierten und Zehntausende Menschen töteten, sind die Massenvernichtungswaffen nicht wieder in kriegerischen Konflikten eingesetzt worden. Doch häufig war das nur einer Verkettung glücklicher Umstände zu verdanken, berichtet der britische Guardian.

So vergaß der damals frischgewählte französische Präsident François Mitterand 1981 den Zahlencode für den Nukleareinsatz zuhause in seiner Anzugtasche - eigentlich hätte er diesen immer bei sich tragen müssen. Gleiches soll auch seinem US-Kollegen Jimmy Carter und Jahre später angeblich auch Bill Clinton passiert sein.

Bei einem Unfall wäre 1969 beinahe die amerikanische Ostküste durch zwei Wasserstoffbomben ausgelöscht worden als ein bewaffnetes Militärflugzeug verunglückte. Im September 1980 ließ ein Techniker in Arkansas versehentlich einen Schraubenschlüssel in einen Schacht fallen, was den Start einer Atomrakete auslöste - diese landete nahe einer Straße, detonierte aber nicht. So beschreibt es der Autor Eric Schlosser in seinem Sachbuch "Command and Control - Die Atomwaffenarsenale der USA und die Illusion der Sicherheit".

Haarscharf vorbei an der nuklearen Katastrophe

Erschreckend oft schrammte die Welt nur haarscharf an einer weiteren nuklearen Katastrophe vorbei - das geht auch aus einen Bericht des renommierten britischen Thinktanks Chatham House hervor. "Mehrmals haben nur persönliche Entscheidungen Einzelner - oft entgegen dem offiziellen Protokoll und politischen Beratern - die Situation gerettet", heißt es in dem Bericht mit dem Titel "Too Close for Comfort: Cases of Near Nuclear Use and Options for Policy" (auf Deutsch "Zu dicht für Behaglichkeit: Fälle von Beinahe-Nukleareinsatz und Möglichkeiten für das politische Handeln").

Insgesamt 13 Fälle listen die Experten auf, in denen es beinahe zur Explosion von Atomsprengköpfen gekommen wäre, und die Autoren betonen, dass diese Zusammenstellung keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Ziel des Berichts sei es stattdessen, einen Überblick zu geben und mögliche Gründe und Einflussfaktoren für die Beinahe-Katastrophen zu analysieren.

Eine erste wichtige Erkenntnis aus der Zusammenstellung der Fälle: Keine Nation ist davor gefeit, dramatische Fehler zu begehen. Der Bericht der Forschungsinstitution Chatham House betrachtet Vorfälle seit 1962 in den USA, in Russland, in Europa, Israel und in Kaschmir. Und auch die Ursachen sind vielfältig. Nur in knapp einem Drittel der 13 Fälle spielte die Eskalation eines militärischen Konflikts eine entscheidende Rolle. Häufiger waren schlicht Missverständnisse, Fehleinschätzungen oder technische Defekte verantwortlich dafür, dass beinahe gezündet worden wäre.

Eine Auswahl von fünf Beinahe-Katastrophen

  • Einer der wohl bekanntesten Fälle: Als die Kuba-Krise im Oktober 1962 auf ihrem Höhepunkt ist, warnen U-Kriegsschiffe vier sowjetische U-Boote mit Nuklearbewaffnung davor, man werde Wasserbomben testen. Die Nachricht erreicht die U-Boote jedoch nicht. Abgeschnitten von der Außenwelt und unter dem Eindruck eines Angriffs entscheidet einer der Befehlshaber unter der Meeresoberfläche, einen Nuklearsprengkopf zu zünden. Nur dank seines Stellvertreters wird der Atomkrieg abgewendet - dieser kann seinen Vorgesetzten umstimmen.
  • Im Juni 1980 löst ein fehlerhafter Computerchip in Washington einen Alarm aus - angeblich seien 2200 Sowjetraketen bereits auf dem Weg. Nur Sekunden, bevor der Nationale Sicherheitsberater den damaligen US-Präsidenten Carter davon unterrichten kann, bekommt er die Information, dass keines der anderen Frühwarnsysteme die vermeintlichen Raketen auf dem Schirm hat.
  • Auch in der ehemaligen Sowjetunion kam es 1983 zu einem Fehlalarm. Am 25. September, kurz nach Mitternacht, schlägt das Satelliten-Frühwarnsystem an - den Daten zufolge sind fünf Interkontinentalraketen auf dem Weg. Der befehlshabende Oberstleutnant handelt gegen das Protokoll, als er sich entscheidet, den Vorfall nicht an seinen Vorgesetzten zu melden. Später stellt sich heraus, dass es sich um eine Sonnenspiegelung und nicht um Raketen handelte.
  • Am 25.Januar 1995 feuern norwegische Wissenschaftler eine Black-Brant-Rakete ab, um das Polarlicht in der Region von Spitzbergen zu erforschen. Sie warnen Moskau zwar vor, doch auch diese Nachricht erreichte nie den Empfänger. Die russischen Frühwarnsysteme schlagen Alarm - Russlands Präsident Boris Jelzin diskutierte bereits seine Reaktion mit der Militärführung als klar wird, dass die vermeintliche Rakete bereits fernab russischen Territoriums explodiert war.
  • Im August 2007 verschwinden sechs US-Nuklearraketen für 36 Stunden. Sie wurden fälschlicher Weise unter den Tragflächen einer B-52-Maschine montiert, die dann vom Stützpunkt in North Dakota nach Louisiana fliegt. Die Besatzung hat keine Ahnung von der heiklen Ladung.

1800 Sprengköpfe, innerhalb von Minuten einsatzbereit

Viel Glück und starke Persönlichkeiten, die in Krisensituationen einen kühlen Kopf bewahren, - häufig scheinen allein sie den Ernstfall zu verhindern. Das beweisen die gesammelten Fälle eindrücklich. "Man kann sich Situationen vorstellen, in denen die Anspannung wächst, in denen Signale falsch interpretiert werden. Werden die Leute immer so einen kühlen Kopf bewahren, sich die Zeit für einen vernünftige Entscheidung zu nehmen?", zitiert der Guardian Patricia Lewis, die Leiterin des Bereichs Internationale Sicherheit am britischen Chatham House.

Auch wenn der Öffentlichkeit zumeist ein Bild von Kontrolle und Sicherheit vermittelt worden sei - seit ihrer Erfindung bergen Atomwaffen durch ihre bloße Existenz große Risiken, so die Forscher. Und dieses Risiko habe in den vergangenen Jahren keinesfalls abgenommen, heißt es in dem Bericht. Im Gegenteil. Die Experten des Chatham House sehen eine wachsende Gefahr durch die weitere Verbreitung von Atomwaffen - akut in Nordkorea. Speziell zu diesem Land gibt es praktisch keine Informationen, geschweige denn Kontrolle der nuklearen Bewaffnung.

Doch auch in den USA und in Russland lagerten aktuell etwa 1800 Sprengköpfe in Alarmbereitschaft - fertig zum Einsatz innerhalb einer Zeitspanne von fünf bis 15 Minuten. "Ein Fakt der angesichts der wachsenden Spannungen im Ukraine-Konflikt umso bedeutsamer wird", schreibt der Guardian.

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