"Das Mittelmeer - eine Biographie":Wir sind, was der Wind will

Vesuv Pompeji Capri Neapel Golf von Neapel Italien

Der Golf von Neapel. Von den Küsten- und Hafenstädten her erzählt David Abulafia die Geschichte des Mittelmeerraums.

(Foto: dpa-tmn)

Von den Rändern und Inseln her, aus der Perspektive der Küsten- und Hafenstädte und ihrer Bewohner hat der Historiker David Abulafia eine großartige Geschichte des Mittelmeers verfasst. Im Mittelpunkt: Migration als Motor und Lebensnerv.

Von Volker Breidecker

Das Mittelmeer ist bis an die Ränder gefüllt mit Poesie und Wissen, mit Philosophie, Geschichtsschreibung und den Lehren dreier Offenbarungsreligionen - und umstellt ist es von Schrift: Auf den Seekarten des Mittelalters und der frühen Neuzeit sind die Küstenverläufe mit unzähligen Namen von dicht an dicht nebeneinander gereihten Orten beschriftet. Doch während sich an den Meeresufern die Ortsnamen drängen, markieren leere weiße Flächen das Hinterland dreier Kontinente.

Mittelmeerschifffahrt hieß dabei lange Zeit nichts anderes, als sich in Ufernähe zu bewegen, um Stürmen und Piraten zu trotzen, und bedeutete obendrein - mit den Worten eines portugiesischen Chronisten - "von einem Wirtshaus an der Küste zum anderen zu fahren, hier zu Mittag und dort zu Abend zu essen". Unter Fernhändlern war es keine Seltenheit, in gleich mehreren Häfen Häuser und Ehefrauen zu besitzen.

In Fernand Braudels dreibändiger großer Mittelmeergeschichte sind den Verkehrswegen zwischen entlegenen Meeresufern und dem lebendigen Austausch von Menschen, Dingen und Ideen nur wenige Seiten gewidmet. Selbst das Kapitel "Der unentbehrliche Migrant" beschränkt sich auf die Zuwanderung von Menschen aus dem jeweils angrenzenden Hinterland. Braudels Mittelmeerraum gleicht einer statischen geologischen Formation, die mehr von der starren Unbeweglichkeit archaischer Verhältnisse im Hinterland als von der Dynamik der Bewegungen an den Ufern und auf den Gewässern geprägt ist.

In der Lebensweise einer "in sich geschlossenen Welt", wie Carlo Levi sie in "Christus kam nur bis Eboli" schilderte, wollte Braudel - so sein Fazit - das "wahre Gesicht des Mittelmeerraums" erkennen: "In seinen wahren Umrissen, in seiner bedrückenden Wirklichkeit" ließe es sich "nur mit dem Blick des Geographen (des Reisenden oder des Romanciers ) erfassen."

Flüchtlinge, Krieger, Missionare

Ohne sich in den Leerlauf einer bloßen Ereignisgeschichte oder in das Sammelsurium einer drei Jahrtausende überspannenden Kulturgeschichte zu verirren, hat der britische Historiker David Abulafia mit - wie der Untertitel der Originalausgabe lautet - "A Human History of the Mediterranean" ein großartiges Werk geschaffen, das künftig gleichrangig neben Braudels Opus magnum stehen wird, auch als dessen Korrektiv. Erstmals wird hier eine konsequent maritime Binnenperspektive auf den Mittelmeerraum eingenommen, der Blick von den Rändern und Inseln her, von den Küsten- und Hafenstädten und ihren Bewohnern.

Und geht Abulafia der pragmatischen Ordnung halber auch chronologisch vor - von den archaischen Vorzeiten bis in die Gegenwart -, so verschließt er sich keineswegs Braudels Konzept der "longue durée", auch wenn er andere und von Menschen gemachte Dinge ins Blickfeld nimmt: Nicht nur zählebige Praktiken wie die bis weit in die Neuzeit gleichermaßen von Christen wie Muslimen betriebene Sklaverei oder die damit verbundene Galeerenschifffahrt; der Fokus aber liegt auf den kleinen wie großen Wanderbewegungen als dem Lebensnerv des darüber seine Einheit herstellenden Mittelmeerraums: Migration als der Motor, unter dem die Identität der Menschen stetige Veränderung erfährt, woraus so mannigfache Akteure hervorgehen, wie es Flüchtlinge, Vertriebene und Exilanten, Händler, Wanderarbeiter und Krieger, Missionare, Pilger oder Reisende aus anderen Motiven sind.

Vergangenes Lebensgefühl

Das Buch trägt eine Widmung, die den Untertitel der deutschen Ausgabe rechtfertigt, der "Eine Biographie" des Mittelmeers verheißt: "a la memoria de mis antecesores" heißt es in der Sprache der 1492 von der Iberischen Halbinsel vertriebenen und im spanisch-portugiesischen Machtbereich auch weiterhin verfolgten Sepharden, die bis dahin Seite an Seite mit den Muslimen von al-Andalus gelebt hatten. Der Name Abulafia ist ein im gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus verbreiteter sephardischer Name mit vielen Varianten und mit prominenten Vertretern, von denen der Autor einige auch am Rande seiner Geschichtserzählung auftreten lässt. Darunter waren auch Marranen, zwangskonvertierte Juden, was diese aber ebenso wenig wie die Morisken - konvertierte Muslime - vor Verfolgungen schützte, weil die allerkatholischsten Könige und ihre Inquisition alle Konvertiten grundsätzlich im Verdacht hatten, heimlich ihrer alten Religion nachzugehen.

Abulafias Geschichtsschreibung ist auch als eine spannende kollektive Biographie exemplarischer Mittelmeerschicksale zu lesen, von Menschen, die aus den verschiedensten Motiven und Antrieben heraus und über Generationen hinweg unterwegs waren und sich in einer der vielen Hafenstädte niederließen: Wo man sich auch nur provisorisch einnisten konnte und Toleranz erfuhr, wo Angehörige unterschiedlicher Religionen und Ethnien sich vermischten, wo man sich auch über ferne Meeresufer hinweg kulturell und sprachlich - in der "Lingua franca" einer an allen Mittelmeerküsten gebräuchlichen Mischsprache aus romanischen, arabischen und hebräischen Elementen - leichter und besser als mit den Bewohnern des unmittelbaren Hinterlands verständigen konnte.

"Die Wandernde" gründete Karthago

Die Erzählung gerade solcher Zusammenhänge macht das Erfrischende dieses Buchs aus. Der Leser muss es nicht unbedingt mit den Anfangskapiteln beginnen, er mag seiner Neugierde folgen oder bei Glanzstücken in die Lektüre eintreten: Das Kapitel "Verzweiflung in der Diaspora" behandelt die nicht immer und auch nicht allerorts nur tragischen Berührungen der drei abrahamitischen Religionen; von erneut brennender Aktualität ist ein Kapitel, das einen "Blick durch die russische Brille" auf die Meere und Seewege um 1800 wirft. Das Juwel des Buchs aber ist das Kapitel unter der Überschrift "Eine Geschichte von viereinhalb Städten" über die in den alten Hafenstädten Smyrna, Alexandria, Thessaloniki und Jaffa lange Zeit exemplarisch vorgelebte "convivenza" der unterschiedlichen Ethnien, Kulturen und Religionen - bis zu ihrem Zusammenbruch unter dem nationalistischen Wahn, den ethnischen "Säuberungen" und rassistischen Pogromen des 20. Jahrhunderts.

Als Brückenköpfe und Drehscheiben eines unaufhörlichen Transports und Austauschs von Menschen, Dingen und Ideen waren diese und andere Städte die Heimat auch jenes genuinen Mittelmeergewächses, das Albert Camus den "indigenen Fremden" nannte: Dessen vergangenes Lebensgefühl, wie es in Abulafias Buch seine historische Darstellung findet, ist auch mit Kernsätzen eines der schönsten Mittelmeerromane des vorigen Jahrhunderts - "Das Hundeleben der Juanita Narboni" aus der Feder des in Tanger geborenen Ángel Vázquez - auf den Begriff zu bringen: "Gott sei Dank", sagt da die auf einen italienischen Namen getaufte uneheliche Tochter einer andalusischen Mutter mit auf Gibraltar ausgestelltem britischen Pass, "Gott sei Dank sind wir in einer Stadt geboren, in der wir weder ganz Christen noch ganz Juden sind und auch nicht ganz Araber. Wir sind das, was der Wind will. Eine Mischung."

Und Juanita Narboni oder Beatrice Mendes de Luna - eine im Jahr 1510 aus Portugal vertriebene Marranin, deren von Abulafia geschilderte Odyssee von Westeuropa über Italien und den Balkan bis an den Hof von Konstantinopel führt, von wo aus sie Hilfsmaßnahmen für in Europa verfolgte Juden organisiert - hätte auch Elissa, alias Dido, heißen können, nach der sagenhaften Gründerin Karthagos, die nach einer von Vergil abweichenden Überlieferung ein Flüchtling aus der östlichen Ägäis war: Auf der Flucht vor ihrem blutrünstigen Bruder, dem Mörder ihres Gatten, zog sie mit ihren Begleiterinnen nach einer Station auf Zypern weiter nach Westen.

Die achtzigköpfige - wie es heute heißen würde - "illegale Einwanderergruppe" landete an der libyschen Küste und mischte sich dort mit den Einheimischen, deren König der Elissa den Namen "Dido" gab. Und Dido, so lesen wir bei Abulafia, bedeutet "die Wandernde", unter welchem Namen sie auf dem Hügel von Byrsa, nahe dem heutigen Tunis, die Stadt Karthago gründete - der Sage nach auf dem Umriss einer auf dem Boden ausgebreiteten Tierhaut. Das war das Material, auf dem man späterhin auch die nach dem italienischen Wort für "Häfen" benannten Portolankarten des Mittelmeerraums entwarf.

David Abulafia: Das Mittelmeer. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Michael Bischoff, S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2013, 960 Seiten, 34 Euro.

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