Gesundheitssystem:Es braucht Ideen gegen die Pflegemafia

Pflegeversicherung

Überforderungen auf allen Ebenen: In vielen Pflegeheimen und auch in der häuslichen Pflege gibt es eklatante Missstände.

(Foto: Oliver Berg/dpa)

Muss erst Günter Wallraff undercover aus Altenheimen berichten, damit sich endlich etwas tut in der Pflege? Die Missstände sind himmelschreiend - auch in der häuslichen Pflege. Damit kriminelle Strukturen keine Chance mehr haben, muss sich das System ändern.

Ein Kommentar von Ruth Schneeberger

Ja, es ist schlimm, wenn ein kranker Mensch in seinem Urin und Kot liegen gelassen wird. Es ist erniedrigend, wenn von ihm erst einmal Handybilder geschossen werden, bevor ihm geholfen wird. Und ja, es ist grausam, wenn Alte in Heimen geschlagen oder anderweitig misshandelt werden, darüber geschwiegen wird, und wenn weder Polizei noch Heimaufsicht helfen kann oder will.

Aber all diese Dinge sind schon seit langem bekannt. Sie passieren in deutschen Altenheimen seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Und es ist erstaunlich, dass ein Günter Wallraff auftreten muss, einst König der Undercover-Reportage, inzwischen 71-jährig und für RTL im Einsatz, damit wieder einmal viele Menschen all dessen gewahr werden. Der Zustände - und der fehlenden Konsequenzen. Damit sie aufhorchen, wenn Heimaufsichten und Behörden entweder wider besseres Wissen sagen: Das können wir nicht nachvollziehen. Oder, ehrlicher: Das ist wohl wahr, aber wir können nichts dagegen tun.

Sendung mit Folgen

Was bei der Sendung "Team Wallraff" herauskommen würde, war schon vor ihrer Ausstrahlung am Montagabend klar. Denn Pflegeheime in Deutschland sind - von löblichen Ausnahmen abgesehen - im großen und ganzen Verwahranstalten für Alte und Kranke. Personalschlüssel sind zu niedrig, die benötigte Pflege zu aufwändig, Pfleger und Pflegehelfer unterbezahlt und überfordert, das Pflegegeld reicht hinten und vorne nicht, die teuren Kosten für den Heimplatz versickern irgendwo zwischen Verwaltung, Rendite und - ja, wo denn eigentlich genau? Zwar gab es Reaktionen auf Wallraffs Reportage. Der Verantwortliche eines Altenheims aus dem Film ließ am Dienstag verlauten, das Verhalten seines Personals werde Folgen haben.

Aber die Umstände, die nun wieder einmal empören, sind seit langem bekannt. Überraschend dagegen sind Walfraffs Enthüllungen außerhalb der Heime: Er zeigte, warum häusliche Pflege nicht zwingend besser sein muss, obwohl die Alten und Kranken doch extra in ihrem persönlichen Umfeld belassen werden, wie sie es sich wünschen (auch weil viele Angst vor den Zuständen im Altenheim haben). Er zeigte, wo Teile des Geldes bleiben, das in der Pflege fehlt: in mafiösen Strukturen.

Im RTL-Bericht ist es ein Pflegedienst, der in Berlin Pflegegeld abzockt. Wallraff verkleidete sich als leicht gebrechlich, wird aber vom Pflegedienst und den Gutachtern, darunter Ärzte und Medizinischer Dienst, auf dem Papier zu einem schweren Pflegefall gemacht. Auf einmal ist er ein angeblicher Schlaganfall-Patient. Damit der Pflegedienst sich für Wallraffs vorgebliche Betreuung, die er nie erhalten wird, monatlich 1600 Euro erschleichen kann, werden sowohl die Angehörigen als auch Ärzte und Gutachter mit einem Teil des Geldes bestochen, so der Bericht.

"Das lukrativste Verbrechen, was man sich in Deutschland vorstellen kann"

Dieses Geschäft, das in der Debatte um den Pflegenotstand nur selten thematisiert wird, scheint sich zu lohnen: Bereits 2012 berichteten Medien darüber, dass ein Betrügerring um einen Düsseldorfer Unternehmer mit bis zu fünf Pflegediensten in ganz Deutschland Krankenkassen durch Scheinabrechnungen um mehrere Millionen Euro betrogen haben soll. Bei Wallraff nun sagt nun ein stellvertretender Bezirksbürgermeister aus Berlin: "Das ist das im Moment das lukrativste Verbrechen, was man sich in Deutschland vorstellen kann. Das ist ein Verbrechensmarkt, der völlig risikofrei ist und dabei gewinnbringender als Drogenhandel", so Stephan van Dassel.

Es steht zu befürchten, dass die Pflegedienste, über die bereits in den Medien berichtet wurde, nicht die Einzigen sind. Angehörige und Betroffene, so sie noch dazu in der Lage sind, berichten immer wieder von falschen Abrechnungen ihrer Pflegedienste - da werden etwa blinden Patienten überhöhte Summen zur Unterschrift vorgelegt. Kleinvieh macht eben auch Mist. Viele Betrüger wissen genau, wie sie das Sozialsystem aushebeln können. Weil sie die Zeit haben, sich in ein System hineinzuversetzen, das für Alte, Kranke und deren oft überlastete Angehörige längst zu kompliziert geworden ist.

Pflege in Deutschland - ein Schattenreich

Fügt man das Bild zusammen, das andere Berichte aus diesem Milieu nahelegen, kann einem erst recht angst und bange werden: Berufsbetreuer, die eigentlich vom Staat für Behinderte, Alte und Kranke eingesetzt werden, um deren behördliche Angelegenheiten zu regeln, machen mitunter gemeinsame Sache mit Immobilienhaien, um an deren Grundstücke und Vermögen zu kommen, und stechen dabei gezielt Angehörige aus, wie Sandra Maischberger in ihrer ARD-Sendung vor einem Jahr aufdeckte.

Da gibt es nun also echte Pflegedienste, die bei vielen ein bisschen, und falsche Pflegedienste, die für manche den Höchstsatz abzocken. Berufsbetreuer, die ihren verantwortungsvollen Job zugunsten der eigenen Bereicherung ausnutzen. Behörden, die das alles decken. Und kaum einer tut etwas dagegen. Sind die zuständigen Kontroll- und Ermittlungsstellen so sehr überlastet? Die Wallraff-Reportage enthüllt: In Berlin wissen die zuständigen Ämter von den Machenschaften der betrügerischen Pflegedienste. Allein, der Nachweis ist zu schwierig, um dagegen tätig werden zu können.

Dass so viel dringend benötigtes Geld in betrügerischen Strukturen verschwindet, empört auch Menschen, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen - damit sie eben nicht in Altenheimen unter den gegebenen Umständen vergammeln müssen. Denn sie bekommen die Knappheit der Finanzmittel deutlich zu spüren. Oft werden sie nur unzureichend unterstützt. Stattdessen werden sie, sobald die eigenen Geld- und Kraftreserven aufgebraucht sind, von Sozialämtern, Bezirksregierungen, Krankenkassen, medizinischen und sonstigen Hilfs- und Pflegediensten zermürbt.

Überforderung auf allen Ebenen

Weil immer wieder neue Anträge gestellt, immer wieder neue Hilfsmittel abgelehnt werden, weil teure Anwälte benötigt werden, die vorgesehene und bewilligte Hilfen einklagen müssen, damit sich irgendetwas bewegt. Und wenn das Geld und die Nerven alle sind, dann geht eben nur noch das Allernötigste - auf Kosten der Familienstrukturen, auf Kosten der Pflegenden und natürlich auf Kosten der Alten und Kranken. Zwar gibt es immer mehr Hilfsangebote - doch die Koordinierung fehlt. Die zu Pflegenden werden alleingelassen.

Wenn nun Wallraff zeigt, wie fidele Geschäftsunternehmer genau jenes Geld vom Staat, das zum Beispiel in der häuslichen Pflege fehlt, im großen Stil selbst einsacken, macht das wütend. Diese berechtigte Empörung hat durchaus öffentliche Fürsprecher. Der Münchner Pflegekritiker Claus Fussek hat bereits mehrere Bücher darüber geschrieben (zum Beispiel "Im Netz der Pflegemafia - Wie mit menschenunwürdiger Pflege Geschäfte gemacht werden", Bertelsmann, 2008).

Doch die Kritik verhallt, solange dem Gesetz nach und nach außen hin alles zu stimmen scheint, solange zu viele den Mund halten, die ihn eigentlich aufmachen müssten. Die Politik beschränkt sich auf Reförmchen und lässt dabei zu, dass in diesem Bereich Menschen arbeiten, die anderswo kaum unterkämen. Und dass die anderen, die guten Pfleger, unter den Verhältnissen zermürbt werden - oder aufgeben. Ein weiteres Problem ist, dass es keine Alternative zu geben scheint: Warum zum Beispiel wird ein Altenheim, in dem Missstände herrschen, nicht einfach geschlossen? Ganz einfach: Man wüsste gar nicht, wohin mit den ganzen Alten und Kranken. In kaum einem System ist Überforderung so weit verbreitet wie in der Pflege. Und das über alle Instanzen hinweg.

Es gibt wohl nur einen Weg, wie das alles nicht noch schlimmer wird: Die Pflege muss neu durchdacht und besser organisiert werden. Einfacher, logischer, näher am Menschen. Pflege in Deutschland, dieser ganze Verwahr- und Verwaltungswust, ist tragisch gescheitert. Wir müssen uns jetzt etwas anderes überlegen. Denn so wie im Moment funktioniert es - ganz offensichtlich - nicht mehr.

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