Ein Jahr NSU-Prozess:Lehrstück in Echtzeit

NSU Prozess

Beate Zschäpe im Juni 2013 im Gerichtssaal. Am Jahrestag klagt sie über Unwohlsein.

(Foto: dpa)

Das Interesse am NSU-Prozess ist auch nach einem Jahr ungebrochen. Viele Besucher sehen es als ihre staatsbürgerliche Pflicht an, Beate Zschäpe auf der Anklagebank zu verfolgen. Doch ausgerechnet am Jahrestag klagt sie über Unwohlsein. Als Grund nennt sie eine Nachricht.

Aus dem Gericht von Annette Ramelsberger

Sie sind aus Essen gekommen, aus Gelsenkirchen, Köln, Wuppertal und Düsseldorf. Um 01.00 Uhr nachts sind sie losgefahren, acht Stunden lang nach München, nur um eines zu zeigen: Sie haben nicht vergessen. Nicht diesen Prozess, nicht die Taten, die dort verhandelt werden. Nurettin Akar, 49, Werkzeugmacher aus Velbert, hat sich eigens einen Tag frei genommen. Er kam mit 15 nach Deutschland, als Sohn eines Gastarbeiters, jetzt ist Deutschland seine Heimat. Sein Sohn studiert. Und er hält es für seine Pflicht, wenigstens einmal diesen Prozess zu besuchen, den NSU-Prozess in München.

Mit Nurettin Akar sind zum Jahrestag des Prozessbeginns vor einem Jahr 40 Menschen aus dem Ruhrgebiet gekommen. Sie sehen, wie intensiv die Zeugen vor Gericht befragt werden, wie ernst jedes Detail genommen wird. Doch an diesem Tag wird der Prozess schon bald unterbrochen: Beate Zschäpe gibt an, unter Übelkeit zu leiden. Gegenüber dem Gerichtsarzt nennt sie den Grund dafür: sie habe am Morgen vor Verhandlungsbeginn eine Nachricht erhalten. Genaueres weiß man nicht. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hat den Prozess nun bis Mittwoch unterbrochen.

Nurettin Akar kann sich trotz der stundenlangen Verzögerungen und mehreren Pausen einen Eindruck verschaffen. Er sagt: "Es geht hier gerecht zu, man hat das Gefühl, dass man in ehrlichen Händen ist. Ich bin froh, dass ich hier her gekommen bin."

Es kommen viele Schulklassen in den Sitzungssaal

Das Interesse am NSU-Prozess ist auch nach einem Jahr ungebrochen. Anfangs hatten sich auch die Verantwortlichen bei Gericht gedacht, der Zustrom von Besuchern werde rasch nachlassen. So wie es auch sonst in Prozessen ist, selbst bei denen gegen Prominente. Als gegen den zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff in Hannover verhandelt wurde, war der Saal am ersten Tag am 14. November noch voll, am zweiten halbleer. Das blieb so bis zum Urteil im März.

Beim NSU-Prozess ist das anders, obwohl es immer wieder Tage gibt, an denen es zäh läuft, Zeugen sich an nichts erinnern können, sich die Befragungen quälend dahinziehen. Doch selbst an Tagen wie am Dienstag, an denen die Sonne draußen scheint und Beate Zschäpe in der Arrestzelle übel ist, kommen die Menschen auch nach langen Gerichtspausen wieder zurück in den fensterlosen Saal.

Auch der Berliner Anwalt Mehmet Daimagüler kommt jedes Mal und sagt: "Wenn ich Schulklassen sehe, das gibt mir Hoffnung." Schulklassen kommen oft.

Es ist eben kein normaler Prozess. Er ist auch ein politisches Signal: Dass nach den vielen Versäumnissen bei Polizei und Verfassungsschutz wenigstens die Aufarbeitung vor Gericht funktioniert. Genau das fordern auch die Demonstranten, die an diesem Tag aus Köln gekommen sind. Sie stehen in der Nähe des Gerichtsgebäudes, halten die Bilder der Toten hoch, die dem NSU zum Opfer gefallen sind.

Doch für sie ist ihr Kommen nicht nur ein Zeichen der Solidarität mit den Angehörigen der Opfer. Sie fordern die lückenlose Aufklärung der Taten, sie können nicht verstehen, dass Rechtsextremisten noch immer durch die Straßen marschieren dürfen. Sie kritisieren, dass ständig von "integrationsunwilligen" Ausländern geredet werde, was den Rechtsextremisten doch "Butter auf ihr Brot schmiere". Doch jenseits des beruflichen Interesses am Prozess schauen immer wieder Menschen herein, die es für ihre staatsbürgerliche Pflicht halten, einmal in diesem Prozess gewesen zu sein.

Nurettin Akar, dem 49-Jährigen aus Velbert, ist übrigens ein junger Mann aufgefallen. Einer auf der Anklagebank. Ein Junge wie sein Sohn, dunkler Schopf, lange Koteletten. "Da bekam ich ein warmes Herz", sagt Akar. Es ist Carsten S., der Mann, der die Mordwaffe überbracht hatte. Es ist aber auch der einzige der Angeklagten, der seine Tat öffentlich bereut und alles auf den Tisch gelegt hat, was er weiß. "Gut zu sehen, dass es Menschen sind, die hier sitzen", sagt Akar.

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