Studie zu Extremismus:Die Vermessung der Rechten

Weil es den Deutschen wirtschaftlich gutgeht, nehmen rechtsextreme Einstellungen ab. Doch der Fanatismus verschwindet nicht, er verlagert sich.

Von Kim Björn Becker

Auf den ersten Blick sehen die Befunde der Forscher vielversprechend aus: Immer weniger Deutsche hegen rechtsextreme Gedanken. Das haben Sozialpsychologen der Universität Leipzig zumindest in einer repräsentativen Studie (hier als PDF) herausgefunden, die an diesem Mittwoch in Berlin vorgestellt wird. Alle zwei Jahre ermitteln sie, wie weit rechts die Deutschen politisch sind. Im April wurden dazu 2432 deutsche Staatsangehörige zwischen 14 und 91 Jahren befragt.

Im Vergleich zu den Studien der vergangenen Jahre sind Ausländerfeindlichkeit, Chauvinismus und Antisemitismus diesmal klar zurückgegangen. Das ist die gute Nachricht. "Es gibt aber auch eine schlechte", sagt Sozialpsychologe Oliver Decker. "Bestimmte Gruppen von Migranten werden umso deutlicher diskriminiert." Das klingt zunächst nach einem Widerspruch. Doch die Forscher haben eine Erklärung dafür: Der Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft verändert sich. Die wichtigsten Ergebnisse im Einzelnen:

  • Weniger überzeugte Rechtsextreme: Zwar konnten die Forscher in allen Bevölkerungsgruppen eine rechtsextreme Einstellung nachweisen. In der Summe aller abgefragten Kategorien haben aber lediglich 5,6 Prozent aller Befragten ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild offenbart - weniger als jemals zuvor seit dem Start der regelmäßigen Befragungen im Jahr 2002. Damals zeigte sich noch beinahe jeder zehnte Deutsche als strammer Vertreter rechten Gedankenguts. Die Forscher führen das auf die gute wirtschaftliche Entwicklung zurück: "Die wirtschaftliche Gesamtentwicklung ist mit Wirtschaftswachstum und Exportsteigerung so gut wie seit Jahren nicht mehr", sagt Oliver Decker. "Dabei wissen wir schon seit Jahren um den engen Zusammenhang von Wirtschaft und politischer Einstellung. Jetzt ist auch der Kontrast zu allen anderen Ländern in Europa sehr groß. Das stabilisiert die Mitte der Gesellschaft."
  • Latent rechtsextreme Einstellungen gehen zurück: Auch der Anteil derjenigen, die latent rechtsextreme Meinungen vertreten, ist gesunken. Um die politische Überzeugung der Bürger zu ermitteln, stellten die Sozialwissenschaftler Fragen aus den Kategorien Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus, Chauvinismus, Sozialdarwinismus und Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur. Das Ergebnis: In fast allen Bereichen zeigten die Befragten weniger rechtsextreme Einstellungen als zuvor. Die Ausländerfeindlichkeit lag bei 18,1 Prozent (2012: 25,1 Prozent), der Chauvinismus bei 13,6 (19,4), der Antisemitismus bei 5,1 (8,6), der Sozialdarwinismus bei 2,9 (4,3) und eine Verharmlosung des Nationalsozialismus konnten die Forscher bei 2,2 Prozent der Befragten feststellen (2012: 3,1 Prozent). Einzige Ausnahme: In diesem Jahr befürworten 3,6 Prozent eine rechtsautoritäre Diktatur, das sind 0,1 Prozentpunkte mehr als 2012.
  • Starke Thesen am rechten Rand: Obwohl die Ergebnisse in der Summe in eine gute Richtung weisen, offenbaren die Befragten in einzelnen Punkten überdurchschnittliche Zustimmung zu starken rechten Thesen. Knapp 30 Prozent der Befragten forderten beispielsweise, die Deutschen "sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben". 27 Prozent zeigten sich überzeugt, Ausländer kämen nur nach Deutschland, "um unseren Sozialstaat auszunutzen". Fast 16 Prozent der Befragten stimmten darüber hinaus der These zu, dass Deutschland "eine starke Partei braucht, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert". Für mehr als elf Prozent ist "der Einfluss der Juden zu groß" und etwa neun Prozent meinen, der Nationalsozialismus "hatte auch seine guten Seiten". Insgesamt zeigt sich aber, dass die rechten Einstellungen trotz dieser hohen Einzelwerte gesunken sind.
  • Wut gegen Asylbewerber, Sinti und Muslime: Zwar zeigen sich mit 18 Prozent weniger Deutsche ausländerfeindlich als zuvor, 2002 waren es noch fast 27 Prozent. Doch es hat den Anschein, als ob das ausländerfeindliche Potenzial sich vor allem verschoben hat - zulasten der Asylbewerber, Sinti und Muslime. Asylbewerber werden von 84,7 Prozent der Befragten in den neuen und von 73,5 Prozent in den alten Bundesländern abgelehnt oder schlecht beurteilt. Auch Sinti und Roma ziehen Ressentiments auf sich: 55,4 Prozent sagten, sie hätten "Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten". In einer Vergleichsstudie von 2011 gaben das nur 40,1 Prozent der Befragten an. Auch Muslime werden vielfach von den Deutschen abgelehnt. 36,6 Prozent meinten, ihnen sollte "die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden", 43 Prozent sagten, sie fühlten sich durch die Anwesenheit von Muslimen "wie ein Fremder" im eigenen Land. "Die Empfänglichkeit für die Ideologie der Ungleichwertigkeit ist weiterhin vorhanden", sagt Oliver Decker. "Wir sehen hier eine autoritäre Dynamik. Nicht Migranten im Allgemeinen werden abgelehnt, viele Deutsche denken nun: Die bringen uns was. Aber jene, die die Phantasie auslösen, sie seien grundlegend anders oder hätten ein gutes Leben ohne Arbeit, die ziehen die Wut auf sich."
  • Je mehr Bildung, desto seltener rechts: Die Studie zeigt deutlich, dass eine hohe Bildung die Menschen am ehesten von rechten Ideologien fernhält. Befragte mit Abitur stimmen den Thesen in allen Dimensionen des Rechtsextremismus-Fragebogens deutlich seltener zu als Personen mit einem niedrigeren Bildungsabschluss. Zum Beispiel sind nur 6,8 Prozent der Menschen mit Abitur ausländerfeindlich eingestellt, aber knapp 21 Prozent der Befragten ohne Hochschulreife.
  • Rechte wählen alle Parteien - und besonders gern die AfD: Rechtsextreme Positionen und Einstellungen sind in der diesjährigen Studie bei den Wählern aller Parteien nachweisbar - auch bei den Volksparteien CDU und SPD. Jeweils zwischen 17 und 18 Prozent der Anhänger beider Parteien stimmten ausländerfeindlichen Thesen zu. Die Anhänger der Linken bleiben mit 16,9 Prozent knapp dahinter zurück. Deutlich geringer war der Anteil bei den Wählern der Grünen und der FDP, dort äußerten sich sechs Prozent (Grüne) sowie 8,3 Prozent (Liberale) ausländerfeindlich. "Auffallend ist, dass die AfD neben den rechtsextremen Parteien die stärkste Anziehungskraft bei den Wählern mit einer ausländerfeindlichen, antisemitischen und chauvinistischen Einstellung hat", sagt Sozialwissenschaftler Johannes Kiess, der seit 2008 an der Studie mitarbeitet.
  • Deutliche Unterschiede zwischen Ost und West: Ist Ostdeutschland gibt es mehr Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit als im Westen. Beispielsweise ist fast jeder dritte Ostdeutsche der Meinung, dass Deutschland sich wieder mehr Macht und Geltung verschaffen sollte, in Westdeutschland denkt nur etwa jeder Fünfte so. Auch bei der Ausländerfeindlichkeit gibt es in den neuen Bundesländern noch immer höhere Zustimmungswerte als in den alten. "Wo weniger Migranten leben, ist die Diskriminierung von Ausländern stärker verbreitet", erklärt Elmar Brähler, einer der Autoren der Studie. "Der Kontakt verhindert Vorurteile, um diesen Zusammenhang wissen wir schon seit einigen Jahren."
  • Die Europäische Union wird immer noch skeptisch betrachtet: "Unsere Ergebnisse weisen eine stabile Zustimmung zur EU bei 40 bis 45 Prozent der Bevölkerung aus", so Kiess. "Doch bei mehr als 50 Prozent hat sie keine positive Resonanz." Dabei zeigt die Analyse, dass die fehlende Zustimmung zur EU stark mit der antidemokratischen Orientierung der Befragten zusammenhängt: Menschen, die rechtsextrem eingestellt sind, lehnen die EU deutlich häufiger ab.

Die SPD-Bundestagsabgeordneten Susann Rüthrich und Daniela Kolbe forderten angesichts der Studienergebnisse, dass Bundesprogramme gegen Rechts dauerhaft unterstützt werden. Zudem sollten qualifizierte Opferberatungsstellen ausgebaut und die Prävention verstärkt werden. Petra Pau (Die Linke) plädierte dafür, gesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus "endlich verlässlich und ausreichend zu unterstützen".

Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter mahnte, die Bundesmittel für Demokratieförderung und den Kampf gegen Rechtsextremismus "auf mindestens 50 Millionen Euro aufzustocken." Er betonte, der Rassismus in Deutschland konzentriere sich auf Gruppen, die zunehmend an den gesellschaftlichen und medialen Pranger gestellt würden. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit müsse bekämpft werden, hier dürfe es keine Toleranz geben.

Auch Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus einsetzt, forderte ein stärkeres Engagement gegen Rassismus. Die Vorurteile gegen Sinti und Roma, Muslime und Flüchtlinge seien "in besorgniserregendem Maße gestiegen". Für den Sprecher für demokratische Kultur der SPD-Fraktion im sächsischen Landtag, Henning Homann, zeigt die Tatsache, dass jeder Fünfte nach wie vor ausländerfeindlichen Positionen zustimme, dringenden Handlungsbedarf.

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