Hagelunwetter 1984:"Das Dach hat ausgeschaut wie ein Nudelsieb"

Aufräumungsarbeiten nach dem Hagelschlag vom 12.07.1984 in München

1984 richtete ein Hagelsturm in München große Schäden an.

(Foto: dpa)

Erst türmten sich gelbschwarze Wolken am Himmel, dann brach ein heftiges Gewitter los: Beim Hagelschlag vom 12. Juli 1984 wurden 70.000 Gebäude beschädigt, 400 Münchner mussten ins Krankenhaus und drei starben - vor Aufregung.

Von Wolfgang Görl

Es ist 30 Jahre her, aber Jörg-Dietrich Haslinger, der in Ramersdorf mit seiner Familie eine Doppelhaushälfte bewohnt, kann sich noch gut erinnern. "Der Himmel wurde gelb, und draußen im Garten hörten die Vögel mit einem Schlag auf zu singen.

Es war totenstill. Gespenstisch." Dann öffnete der Himmel seine Schleusen. Erst Regen, dann Hagel. Aber was für ein Hagel. Eiskugeln groß wie Tennisbälle flogen wie Geschosse vom Himmel, Fensterglas klirrte, Dachziegel zerbarsten, der Lärm war infernalisch, gerade so, als würden alle Trommler der Welt ein gemeinsames Platzkonzert geben.

Nur wenige Minuten tobte das Unwetter, doch die genügten, Haslingers Anwesen zu verwüsten. "Im Garten war alles kurz und klein gehäckselt", sagt der Polizist, der mittlerweile im Ruhestand ist. Knöchelhoch lagen die Hagelschloßen auf den Beeten, von den Rosen waren nur noch die Stiele übrig, die Bäume entlaubt, und das Gemüse hatte sich in Brei verwandelt. Noch schlimmer aber waren die Schäden am Haus.

Schwere Unwetterschäden im süddeutschen Raum

Manche Hagelkörner waren so groß wie Tennisbälle.

(Foto: Frank Leonhardt/dpa)

Die Hagelkörner hatten die Dachziegel zerbrochen und zersplittert, das halbe Dach war abgedeckt, um das Haus verstreut lagen die Trümmer. Vom verglasten Vorbau war nur noch das Holzgerippe übrig, und auch das kleine Badezimmerfenster war zu Bruch gegangen. "Die Hagelkörner mussten wir mit der Kehrschaufel wieder hinaus befördern" , erzählt Jörg-Dieter Haslinger. Und auch sein Auto, einen nicht mehr ganz neuen Datsun Kombi, hatte es erwischt. "Das Dach hat ausgeschaut wie ein Nudelsieb."

Eine Schneise der Verwüstung

Immerhin, einen Trost hatten die Haslingers. Sie waren beileibe nicht die Einzigen, die am Abend des 12. Juli 1984 vor einem Scherbenhaufen standen. Die Hagelwalze, die gegen 20 Uhr über das Fünfseenland, die Stadt München und deren östliches Umland hinwegrollte, hinterließ eine Schneise der Verwüstung. Wie viele Menschen in Mitleidenschaft gezogen wurden und was da alles kaputt ging, bilanzierte der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft im folgenden Herbst: Mehr als 400 Personen erlitten so starke Verletzungen, dass sie im Krankenhaus behandelt werden mussten; drei Menschen starben vor Aufregung.

Rund 70 000 Wohngebäude wurden zum Teil erheblich beschädigt, ebenso 1000 Gewerbebetriebe, darunter etliche Gärtnereien, deren Gewächshäuser gründlich entglast wurden. In den Landkreisen München, Starnberg und Ebersberg vernichtete das Unwetter einen erheblichen Teil der Feldfrüchte. Rund 20 000 Hektar an landwirtschaftlicher Fläche wurde von den Hagelkörnern noch vor der Ernte umgepflügt.

Tragflächen großer Boeings wurden durchlöchert

Auf dem Flughafen München-Riem und dem Werksflughafen Oberpfaffenhofen demolierte der Hagel insgesamt 150 Flugzeuge. Die Tragflächen großer Boeings wurden durchlöchert, bei vielen kleinen Sportflugzeugen durchschlugen die Eisgeschosse die Kabinenfenster und ramponierten das Cockpit.

Zum Symbol für das Münchner Hageldesaster aber avancierten die mit Dellen übersäten Autos, deren Karosserie der Oberfläche eines Knäckebrots glich. Mehr als 200 000 Fahrzeuge wurden zerbeult, und noch jahrelang sah man Autos, in die der Hagel ein Lochmuster gestanzt hatte, das als München-Look im ganzen Land berühmt wurde.

Eines dieser übel zugerichteten Fahrzeuge gehörte dem Kfz-Meister Michael Siebert. Der damals noch junge Mann spielte nebenher als Bassist in einer Band, und diesem Hobby entsprechend hatte er seinen schwarz lackierten VW Passat Kombi aufgestylt. Auf der Kühlerhaube prangte ein mit einer Airbrushpistole aufgesprühter Kontrabass, auch die kleine Plastikfigur eines Schlumpfs gehörte zur Außendekoration dieses einzigartigen Autos. Am Abend des 12. Juli weilte Siebert in einem Keller in Gräfelfing, um mit seiner Band ein paar neue Stücke zu proben.

Nach dem Hagelschlag vom 12.07.1984 in München

Nach dem Unwetter standen viele Straßen unter Wasser.

(Foto: AP)

"Endlich Geld von der Versicherung"

"Zwischendurch haben wir gehört, dass es prasselt und kracht, aber wir haben uns nichts dabei gedacht." Also feilte man weiter am Repertoire, während draußen die Bäume entlaubt wurden und die Gullys überliefen. Als die Musiker dem Keller endlich entstiegen, mussten sie zur Kenntnis nehmen, dass das sonst so ordentliche Würmtal gehörig in Unordnung geraten war. Sieberts Passat im Kontrabass-Design hatten die Schloßen böse zerdengelt.

Doch keine Spur von Ärger, Wut oder gar Verzweiflung. "Ich hab' mich gefreut", sagt der Kfz-Meister. "Endlich Geld von der Versicherung." Das hat der Autobastler dann auch kassiert und den Schaden selbst repariert. Und ein paar Reparaturaufträge sprangen auch noch heraus, demolierte Autos, die in die Werkstatt mussten, waren ja reichlich vorhanden.

Es gibt historische Ereignisse, Katastrophen zumeist, die sich ins kollektive Gedächtnis eingraben. Viele ältere Menschen wissen noch genau, wo sie waren, als sie am 22. November 1963 die Nachricht von der Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy erfuhren. Ähnlich präsent sind der Fall der Mauer oder der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York. Derart epochal ist der Münchner Hagelsturm selbstverständlich nicht - und doch weiß beinahe jeder, der den sogenannten Jahrhunderthagel erlebt hat, wo er im Augenblick des Unwetters war.

Der Sendlinger Herbert Burger beispielsweise saß mit Freunden im Biergarten der Gaststätte Münchner Haupt. Es war ein schwülwarmer Sommerabend, der ein plötzliches Ende fand. Burger überstand das Eis-Bombardement auf dem Boden kauernd unter dem Biertisch. Die SZ-Feuilletonistin Eva-Elisabeth Fischer weilte in der Kleinen Komödie - ein Theaterabend, der eine unerwartete Wendung nahm, als ein Wasserschwall durch die Seitenwand brach. Der Journalist Karl Forster hatte Nachtdienst in der Redaktion der Abendzeitung. Währenddessen machte der Hagel seinen schönen Alfa Romeo zum Totalschaden.

Schlagzeilen vom Typ "Apocalypse Now"

Wer die Zeitungen, die nach dem Hagelsturm erschienen, durchblättert, bekommt Schlagzeilen vom Typ "Apocalypse Now" zu lesen, Titel wie: "Um 20.05 brach die Hölle los" oder "In der Panik rannten die Münchner um ihr Leben". Was gab es da nicht an kleinen und großen Unglücksfällen: Menschen wurden von herabstürzenden Ästen, Ziegeln und Glasscherben verletzt; auf den Straßen herrschte Chaos, Trambahnen und Busse blieben ramponiert liegen, der U-Bahnhof Harras wurde überflutet, umgestürzte Bäume legten die S-Bahn der Linie 7 lahm; mehrere hundert Fenster der Residenz gingen zu Bruch, das Ziegeldach des Stadtmuseums wurde fast vollständig zertrümmert, und als im Gärtnerplatztheater während der Wolfsschluchtszene im "Freischütz" der Hagel aufs Dach trommelte, glaubte das Publikum an einen Regieeinfall - bis Scherben auf die Bühne fielen und der Vorhang herunterging; Keller liefen voll, Rohre brachen, Hausfassaden wurden durchlöchert. Am schlimmsten traf es den Stadtteil Trudering, wo kaum ein Haus unbeschädigt blieb.

Profiteure des Hageldesasters waren Glaser, Automechaniker und Dachdecker. Sie machten das Geschäft ihres Leben. Wenige Tage nach dem Unwetter riet die Handwerkskammer den Geschädigten, sich vor "Pseudo-Handwerkern" und Schwarzarbeitern in Acht zu nehmen. Die Gemeinde Haar schickte sogar Lautsprecherwagen durch den Ort, um die Bürger vor unseriösen Geschäftemachern zu warnen.

Eine gruselige Trikolore

Karl Pieterek, heute Pressesprecher der Münchner Feuerwehr, hatte am 12. Juli 1984 mit einem Kollegen Dienst im Notarztwagen. "Den ganzen Tag über war es drückend heiß und schwül", erinnert er sich. Gegen Abend hatten sie einen Patienten von der Chirurgischen Klinik an der Nußbaumstraße ins Klinikum Großhadern gefahren. Als Pieterek per Funk mit der Leitstelle sprach, deutete sein Kollege auf den Himmel. Da war noch das Sommerblau, aber im Nordwesten färbte sich das Firmament schwefelgelb und schwarz - eine gruselige Trikolore.

"Dann goss es wie aus Eimern." Vorsichtshalber blieben die Feuerwehrleute in der überdachten Auffahrt des Klinikums. Bald setzte der Hagel ein, etwa zehn Minuten lang hämmerte er auf die Erde. Als das Bombardement vorbei war, fuhr Pieterek wieder zurück in die Nußbaumstraße, vorbei an Autos mit zerschlagenen Windschutzscheiben, die am Rande der bis zu einem halben Meter hoch mit Hagelkörnern bedeckten Straßen parkten. In der Chirurgischen Klinik bot sich Pieterek ein schreckliches Bild.

Vor der Notaufnahme drängten sich die Menschen, die meisten mit Schnittverletzungen, an den Armen, am Kopf, am Hals. Tiefe Wunden, die heftig bluteten. "Die Ärzte haben genäht ohne Ende." In den folgenden Stunden und Tagen waren Pietereks Feuerwehr-Kollegen im Dauereinsatz. Irgendwann gingen die Kunststofffolien aus, mit denen sie die kaputten Dächer abgedichtet hatten. Die Feuerwehrleute lösten das Problem auf unorthodoxe Weise: "Mit Blaulicht sind wir in die Baumärkte gefahren und haben dort Plastikfolien geholt."

Nicht ganz so gut war dagegen die Idee, die ein anderer Münchner Autofahrer hatte. Als er das Wetter heraufziehen sah, fuhr er eilig seinen verschmutzten Wagen aus der Garage, um ihn vom Regen kostenlos reinigen zu lassen. Dann kam der große Hagel.

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