Prozess um Ungarn-Aufstand:"Ich bitte nicht um Gnade"

Eine erschütternde Zeitreise: Vor 50 Jahren wurde Imre Nagy, Führer des Ungarn-Aufstands, zum Tode verurteilt. Jetzt dokumentiert ein Tonbandmitschnitt den Geheimprozess.

Kathrin Lauer

"In Anbetracht Ihres Alters dürfen Sie während des Verhörs sitzen", sagt der Richter. Der Angeklagte ist 62 Jahre alt, herzkrank und stark abgemagert nach anderthalb Jahren Isolationshaft in einer feuchten Zelle.

Prozess um Ungarn-Aufstand: Vor 50 Jahren nach einem Geheimprozess gehängt: der ehemalige ungarische Ministerpräsident Imre Nagy.

Vor 50 Jahren nach einem Geheimprozess gehängt: der ehemalige ungarische Ministerpräsident Imre Nagy.

(Foto: Foto: dpa)

Hinsetzen will er sich dennoch nicht. Imre Nagy, Führer des Ungarn-Aufstands von 1956, will an diesem Tag im Juni 1958 vor dem Budapester Volksgericht stehen. Er will so sprechen, als sei ganz Ungarn sein Publikum.

Er hofft, dass man ihn dereinst hören werde. Dazu hatte Nagy kaum Grund, denn sein Prozess war streng geheim, anders als die stalinistischen Schauprozesse, deren Ziel es war, dem Volk vorzuführen, wie reuige Abweichler von der Parteilinie Selbstkritik üben.

Im Fall Nagy war das anders. Er war während der Untersuchungshaft standhaft geblieben. Nur für den Gebrauch der damaligen Machthaber wurde der gesamte Prozess auf Magnetband aufgezeichnet.

Als Ikone ungeeignet

Jetzt, 50 Jahre danach, war dieser unglaubliche Mitschnitt erstmals öffentlich zu hören, im Budapester Open-Society-Archiv (OSA). Es waren lange 52 Stunden an sieben Prozesstagen, in Realzeit. Pausen gab es nur, wenn die Tonbandstimme des Richters dies anordnete.

Diese erschütternde Zeitreise haben allerdings überraschenderweise nur etwa 50 Zuhörer mitgemacht. Für das geringe Interesse gibt es Erklärungen. Imre Nagy, für die westliche Welt der letzte große ungarische Freiheitskämpfer, ist für das eigene Land "als Ikone ungeeignet", sagt dazu der Historiker Peter Kende.

Ungarns Linke hätten dem Thema gegenüber Komplexe, weil sie eher vom ideologischen Erbe des zum Gulaschkommunisten gewandelten János Kádár lebten, der nach Nagys Sturz von den Sowjets an die Macht gebracht wurde. Die Rechten wiederum hätten ein Problem mit Nagy, weil er ein überzeugter Kommunist war.

Kádár jedenfalls hatte damals Angst vor Nagys Popularität. Deshalb war er derjenige, der das größte Interesse daran hatte, dass Nagy beseitigt wird - nicht die Sowjets. Moskau hatte damals dazu nur nach Budapest gekabelt, man möge "Strenge und Großzügigkeit" walten lassen.

Jedenfalls brauchte Kádár die Tonaufnahme für alle Fälle, als Beweis dafür, dass man die Rädelsführer der Revolte nicht einfach ohne Prozess umgebracht hat. Zugleich hatte Kádár Angst vor einer Veröffentlichung des Tonbandes, weil dies ihn kompromittiert hätte.

Sicheres Todesurteil

Nagy erwähnt nämlich mehrmals, dass Kádár zeitweise sein Mitstreiter war, ehe er die Front wechselte. Nagy wusste - da sind sich die Historiker einig -, dass ihm das Todesurteil sicher war.

Also hat er im Prozess nicht um sein Leben gekämpft, sondern mit übermenschlicher Hartnäckigkeit versucht, seine Sicht der Dinge für die Nachwelt festzuhalten.

Ein Gong ertönt, das Band läuft. Als Erstes protestiert Nagy gegen die Geheimhaltung des Prozesses. Dann teilt er dem Richter nüchtern mit, "dass ich mich als Sündenbock fühle".

Sieben Tage später, nach der Urteilsverkündung, lehnt er wieder jedes Schuldbekenntnis ab, anders als alle anderen sieben Angeklagten. Stattdessen wendet er sich an die Weltöffentlichkeit: "Mein einziger Trost ist es, dass mich das ungarische Volk und die internationale Arbeiterklasse von jenen schweren Anschuldigungen freisprechen werden."

Den Bezug auf die Arbeiterklasse hat die ungarische Regisseurin Márta Mészáros in ihrer Nagy-Verfilmung vor drei Jahren gestrichen, auf Druck der Nagy-Erben, die ihn nicht als Kommunisten gelten lassen wollten.

"Ich bitte nicht um Gnade", das ist Nagys letzter Satz auf dem Band. Am nächsten Morgen, dem 16. Juni 1958, wird er gehängt, schuldig gesprochen wegen Landesverrats und versuchten Sturzes der "volksdemokratischen Staatsordnung".

Das Ende der Revolte

Dasselbe widerfährt am selben Tag Nagys Verteidigungsminister, General Pál Maléter, der die Aufständischen mit Waffen versorgt hatte, und dem Journalisten Miklos Gimes, einem der intellektuellen Köpfe des Aufstands. Fünf weitere Angeklagte erhalten mehrjährige Haftstrafen.

Treibende Kraft der 56er-Revolte waren Reformkommunisten, die Stalins Tod 1953 ermutigt hatte. Sie debattierten im liberal-linken Budapester Petöfi-Kreis über Wirtschaft, Philosophie und über neueste linke Theorien aus Italien.

Im Zuge des Aufstands, der mit einer Studentendemonstration und der Besetzung des Rundfunks begann, brachten sie Nagy an die Macht - und zwar nach langem Zureden. Er selbst war zunächst nicht darauf erpicht.

Von 1953 an war er Ministerpräsident gewesen, 1955 hatten ihn die Altstalinisten abgesetzt, die in Ungarns KP das Sagen hatten. In seiner kurzen Amtszeit während des Aufstands führte er das Mehrparteiensystem wieder ein und erklärte am 1. November 1956 Ungarns Austritt aus dem Warschauer Pakt. Drei Tage später überrollten sowjetische Panzer das Land.

Lesen Sie auf Seite 2, wie sich Nagy Schreiduelle mit dem Richter lieferte

"Ich bitte nicht um Gnade"

Über Nagy gibt es aberdutzende Bücher, doch kein derart bestürzendes Psychogramm wie diesen Prozess-Mitschnitt. Seelenruhig erzählt Nagy dem Richter seinen Lebenslauf.

Es ist, als würden sich zwei gesetzte Herren bei einer Tasse Mokka unterhalten. Nagy lässt seine Bekanntschaft mit dem Kommunismus in der russischen Kriegsgefangenschaft 1916 Revue passieren, seine Teilnahme an der Oktoberrevolution, seinen Einsatz als Propagandist im Auftrag des NKWD im Zweiten Weltkrieg.

Kampf um jeden Buchstaben

Pedantisch besteht er darauf, dass auch seine Ausbildung zum Maschinenschlosser und Dreher zu Protokoll genommen wird. "Es ist überraschend, wie Nagy um jedes Wort, ja sogar um jeden Buchstaben gekämpft hat", sagt sein Biograph János M. Rainer.

Mehrmals kommt es zu Schrei-Duellen, bei denen der Richter stets als Erster die Fassung verliert. Nagy wehrt sich gegen Versuche des Richters, ein Geständnis zu erzwingen, demzufolge er den Aufstand durch ein Komplott vorbereitet und bewusst auch rechtsradikale Kräfte einbezogen habe.

Lange streiten sie darüber, ob es eine Konterrevolution war. In einem längeren Monolog greift Nagy den stalinistischen Flügel der KP an, weil dieser damals, im November 1956, die Sowjets zum Einsatz gegen die Aufständischen gerufen hatte.

Dies habe die Eskalation der Unruhen und die Lynchmorde provoziert. Immer wieder bringt Nagy sein politisches Programm zur Sprache. Dies soll keine "politische Vorstellung" werden, schnaubt der Richter zornig.

Das Tonband als Politikum

Lange hatte das von György (George) Soros finanzierte Open-Society-Archiv mit dem ungarischen Staatsarchiv um diese einmalige Audio-Präsentation gekämpft. Das Tonband ist nun wieder unter Verschluss und darf nur mit Sondergenehmigungen gehört werden.

Das Staatsarchiv hat nach wie vor Bedenken, weil die in Ungarn geltende Datenschutzfrist von 30 Jahren nach dem Tod noch nicht für alle Prozessbeteiligten abgelaufen ist. Zum Beispiel im Fall des Richters Ferenc Vida. Er ist 1990 in einem Budapester Altenheim gestorben.

Klein ist die Gemeinde der Zuhörer bei OSA, aber fein. Viele ältere Herrschaften sind da, unter ihnen eine zierliche Dame in pastellfarbener Blümchenbluse. Konzentriert hört sie zu, ab und zu seufzt sie diskret. Es ist Judit, die Witwe des mit Nagy hingerichteten Generals Maléter. Sie hört die Stimme ihres Mannes jetzt zum ersten Mal wieder.

Stimme der Toten

25 Jahre alt war sie damals, drei Jahre verheiratet, als sie, wie alle Ungarn, plötzlich aus der Zeitung zugleich vom Prozess und von der Hinrichtung erfuhr. Es kam aus heiterem Himmel, denn die junge Frau hatte damals gedacht, dass Kádár sich mittlerweile mächtig genug fühle und keine Rache mehr nötig habe.

"Wissen Sie", sagt sie in einer Verhandlungspause, "mir haben die Knie gezittert. Ich hatte das Gefühl, dass Pál drei Stuhlreihen vor mir sitzt." Frau Maléter arbeitet als Bibliothekarin im Budapester 56er-Institut.

Vor zwei Jahren kam eine junge Lehrerin zu ihr, auf der Suche nach Material für ihre Schüler. "Und stellen Sie sich vor, sie wusste noch nicht einmal, wer Pál Maléter war."

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