Kinderschutzbericht:Jugendamt schreitet 3000 Mal ein

Vernachlässigt, geschlagen, missbraucht: Erstmals legt die Stadt München eine Statistik vor. In 965 Fällen litten Kinder unter psychischer, in 489 Fällen unter körperlicher Misshandlung. Sexuelle Gewalt gab es in 161 Fällen.

Von Sven Loerzer

Vernachlässigt, geschlagen, missbraucht: Um fast 3000 Kinder und Jugendliche, die unter mangelnder Fürsorge oder Gewalt in der Familie leiden, haben sich die Münchner Bezirkssozialarbeiter im Jahr 2012 kümmern müssen. Zumeist, in 1333 Fällen, handelte es sich um Vernachlässigung. In 965 Fällen litten Kinder und Jugendliche unter psychischer und in 489 Fällen unter körperlicher Misshandlung. Sexuelle Gewalt stellten die Sozialarbeiter in 161 Fällen fest.

Diese alarmierenden Zahlen gehen aus dem ersten Kinderschutzbericht des Stadtjugendamts hervor, den Sozialreferentin Brigitte Meier am Dienstag dem Kinder- und Jugendhilfeausschuss des Stadtrats vorlegen wird.

Das neue Bundeskinderschutzgesetz, das zum Jahresbeginn 2012 in Kraft trat, hat nicht nur den Kinderschutz umfassend gestärkt, sondern schreibt auch eine Statistik zu Meldungen über Kindeswohlgefährdungen vor. Die liegt nun für München erstmals vor, die Zahlen für das Jahr 2013 sind noch nicht erfasst. Demnach gingen 2012 in München bei den Bezirkssozialarbeitern insgesamt 3680 Meldungen über eine mögliche Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen ein. Das sind ungefähr dreimal so viele wie im Jahr 2006. Das Jugendamt führt dies auf das gestiegene Bewusstsein für den Kinderschutz zurück.

Bei mehr als zwei Dritteln der Fälle bestätigte sich der Verdacht, bei 16 Prozent bestand zumindest Unterstützungsbedarf. Somit musste das Jugendamt in mehr als 80 Prozent der Fälle mit der breiten Palette seiner Hilfsangebote tätig werden. 346 Kinder und Jugendliche - nicht mitgerechnet minderjährige Flüchtlinge, die ohne Eltern nach München kommen - musste das Jugendamt sogar in Obhut nehmen, weil sie anders nicht mehr zu schützen waren.

Nur bei 14 Prozent der Meldungen konnten die Sozialarbeiter weder eine Gefährdung noch einen Unterstützungsbedarf feststellen. Das zeuge von gutem Wissen über die Indizien, sagt die Sozialreferentin, eine "gesellschaftliche Hysterie" beim Kinderschutz lasse sich nicht erkennen.

206 000 Minderjährige in München

In München leben etwa 206 000 Minderjährige, Gefährdungsmeldungen gingen also für etwa 1,8 Prozent von ihnen ein. Buben und Mädchen sind gleichermaßen betroffen. Ein Blick auf die Altersverteilung zeigt, wie wichtig Prävention bei psychosozial belasteten Familien ist - etwa über die frühen Hilfen und den Hausbesuch von Kinderkrankenschwestern: Denn in der Altersgruppe der bis zu Zweijährigen gab es mehr als 17 Prozent aller Meldungen, insgesamt 637. "Besonders bei Kindern im Säuglings- und Kleinkindalter können schwere Formen der Vernachlässigung und Misshandlung zu massiven gesundheitlichen Beeinträchtigungen, sogar bis hin zu lebensbedrohlichen Situationen, führen", sagt die Sozialreferentin.

Gerade Vernachlässigung, die häufigste Form der Gefährdung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, verläuft aber schleichend und wird deshalb häufig erst spät erkannt. Schwierig ist oft auch, eine beginnende sexuelle Misshandlung zu erkennen. Meier geht deshalb davon aus, dass die Dunkelziffer wesentlich höher liegt, als die tatsächlichen Meldungen besagen. Ein Viertel aller Gefährdungsmeldungen kommen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht, gut zwölf Prozent von Beratungsstellen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und jeweils etwa zehn Prozent von Ärzten und Hebammen sowie von Schulen.

Die meisten Familien hatten gleich mehrere Probleme, durchschnittlich waren es 4,2: Am häufigsten (60 Prozent der Familien) waren es Erziehungsprobleme, gefolgt von wirtschaftlichen (45 Prozent) und schulischen (43 Prozent), Gewalt- sowie Wohnungsproblemen (jeweils 33 Prozent). Auch "häusliche Gewalt" traumatisiert Kinder und Jugendliche. Von gewalttätigen Auseinandersetzungen, die so eskalierten, dass die Polizei kommen musste, waren 1353 Kinder und Jugendliche in 850 Familien betroffen. Fünf Prozent von ihnen wurden dabei verletzt.

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