Debatte um Whistleblower:Nothilfe für das Recht

Der Hinweis auf den Geheimnisverrat führt ins Leere: Warum Whistleblowing nicht strafbar und Snowden deshalb kein Verbrecher ist.

Von Heribert Prantl

Darf ein Rechtsstaat Verbrechen begehen? Natürlich darf er das nicht. Ein Rechtsstaat darf nicht gegen Verfassung, Recht und Gesetz verstoßen. Und wenn er es trotzdem tut? Darf der Staat dann denjenigen bestrafen, der das aufdeckt und öffentlich macht? Muss man, zumindest dann, wenn man Staatsbediensteter ist, den Mund halten, wenn man von schweren Missständen erfährt? Und wann darf man wie den Mund aufmachen und wem gegenüber?

Das sind die rechtlichen Fragen, um die es im Fall Snowden geht: Gibt es ein Recht, rechtswidrige Zustände öffentlich zu machen? Edward Snowden hat aufgedeckt, dass amerikanische und britische Geheimdienste die halbe Welt abhören, dass sie dazu auch ihre Botschaftsgebäude nutzen, dass sie für Spionagezwecke die internationalen Kommunikationsverbindungen unter ihre Kontrolle gebracht haben - dies alles unter Verstoß gegen internationales Recht, Pakte und Vereinbarungen.

Sind illegale Geheimnisse wirklich Staatsgeheimnisse?

Weil Snowden das öffentlich gemacht hat, wird er von der Staatsgewalt gejagt. Drei Delikte werden ihm vorgeworfen: Diebstahl von Regierungseigentum; widerrechtliche Weitergabe militärischer Informationen; Weitergabe nachrichtendienstlicher Informationen an Unbefugte. Er hätte unbedingt schweigen müssen, sagen die Behörden. Allenfalls hätte er sich an den Kongress wenden dürfen. Er habe Staatsgeheimnisse verraten. Sind illegale Geheimnisse wirklich Staatsgeheimnisse, die Strafrechts-Schutz verdienen und denjenigen zum Straftäter machen, der sie aufdeckt? Ist der Verbrecher der, der ein Verbrechen anzeigt - und nicht der, der sie verübt?

So sähen es Regierungen und Sicherheitsbehörden oft gern - und so wird das Strafrecht gern ausgelegt. Recht ist das nicht. In Deutschland ist es anders geschrieben: Tatsachen, die gegen die Grundordnung verstoßen, sind keine Staatsgeheimnisse; so steht es im Paragraf 93 Abs.2 Strafgesetzbuch; aber nachfolgend wird dort diese Klarheit wieder aufgeweicht. Der Staat darf nicht alles, was er tut, mit der Firewall des Strafrechts umgeben. Dann werden auch illegale Geheimnisse zu geschützten Geheimnissen; Staatsschutz nennt man das. Aber auch im US-Strafrecht gibt es den Rechtfertigungsgrund der Notwehrhilfe, also der Verteidigung anderer ("defense of others"). Ist Snowden ein Nothelfer? War Aufdeckung gerechtfertigt oder zumindest entschuldigt?

Schutzwürdig sind nur solche Staatsgeheimnisse, die mit dem Recht im Einklang stehen

Das US-Militärgericht hat das nicht geprüft, als es den früheren Soldaten Bradley Manning, der jetzt Chelsea Manning heißt, zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt hat. Manning hatte Videos von der US-Kriegsführung an Wikileaks weitergegeben - unter anderem die 27 Minuten lange Szene, auf der man ein Kriegsverbrechen sieht: die Besatzung eines Apache-Kampfhubschraubers erschießt mittels Bordwaffen zwölf Zivilpersonen auf einer Straße in Neu-Bagdad. Manning büßte für die Aufdeckung mit folterartiger Untersuchungshaft, mit hoher Strafe und der unehrenhaften Entlassung aus der Armee. Von der unehrenhaften Entlassung der Todesschützen ist nichts bekannt.

Gibt es also kein Recht, das Recht zu verteidigen, wenn es von denen, die eigentlich dazu berufen sind, keiner tut? Hätten also auch die Informanten, die seinerzeit dem US-Journalisten Seymour Hersh vom Massaker in My Lai berichteten, bestraft werden müssen? Und der für die Aufdeckung mit dem Pulitzerpreis bedachte Hersh auch? US-Soldaten hatten in diesem Dorf in Vietnam Frauen vergewaltigt und fast alle Einwohner ermordet. Die öffentlichen Debatten darüber haben mit zum Ende des Vietnamkriegs beigetragen. War das falsch? Wäre My Lai eigentlich geschütztes Staatsgeheimnis gewesen?

Ein deutscher Vorfahr von Snowden

Es gibt darauf eine klare Antwort: Schutzwürdig kann und darf in einem demokratischen Verfassungsstaat nur ein Dienst- oder ein Staatsgeheimnis sein, das mit dem geltenden Recht im Einklang steht. Das Recht darf nicht Unrecht schützen. Der große sozialdemokratische Jurist Adolf Arndt hat das 1963 in der Neuen Juristischen Wochenschrift schön beschrieben.

Damals wurde in der Bundesrepublik erstmals, natürlich nicht unter diesem Namen, über einen Whistleblower-Fall diskutiert. Werner Pätsch, ein kleiner Angestellter des Verfassungsschutzes, hatte enthüllt, dass dieser Geheimdienst deutsche Staatsbürger mit Hilfe der Alliierten verfassungswidrig überwachte. Pätsch war sozusagen ein deutscher Vorfahr von Snowden. Ausgehend von diesem Fall schrieb damals Arndt: "In einer Demokratie gibt es an Staat nicht mehr, als seine Verfassung zum Entstehen bringt. Deshalb ist es weder zulässig, zwischen dem Schutz des Staates und dem Schutz der Verfassung zu unterscheiden, weil dieser Staat nur in seiner Verfassung schützbar ist; noch kann es ein rechtliches Erfordernis geben, etwas gegen das Recht zu sichern (zum Beispiel durch Geheimhaltung), was nach der verfassungsmäßigen Ordnung Unrecht ist". Der Aufsatz, den jüngst Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht, wieder ausgegraben hat, trägt den Titel: "Demokratische Rechtsauslegung am Beispiel des Begriffs 'Staatsgeheimnis'".

Die USA argumentieren wie das deutsche Reichsgericht 1931 bei der Verurteilung von Ossietzky

Die Lektüre empfiehlt sich für den SPD-Bundesjustizminister Heiko Maas, der in seiner rechtlichen Beurteilung des Falls Snowden weit hinter Arndt und 1963 zurückfällt. Snowden habe nun einmal, so meint Maas, durch seine Enthüllungen Strafgesetze verletzt - in seinem Fall die der USA. Aber auch in Deutschland, so Maas, wäre so ein Geheimnisverrat strafbar. Diese wenig demokratische Betrachtungsweise fließt dann auch gleich noch in die Maas'sche Beurteilung des Asylbegehrens ein: Asyl für Snowden sei zwar eine sympathische Vorstellung, aber ohne Substanz. Da fehlt Substanz vielleicht eher bei dem, der so argumentiert.

Die Snowden-Kritiker argumentieren so, wie 1963 im Verfahren gegen Pätsch der Bundesanwalt Walter Wagner argumentiert hat. Der scherte sich nicht darum, dass der Verfassungsschutz alliierte Vorbehaltsrechte illegal genutzt und Hunderte Bundesbürger grundrechtswidrig abgehört hatte - er sah Sachbearbeiter Pätsch als strafbaren Bösewicht, der sich, nachdem er sich beim Referatsleiter vergeblich beklagt hatte, an den Rechtsanwalt Josef Augstein, den Bruder des Spiegel-Herausgebers, gewandt hatte: "Wenn es gestattet wäre", so der Bundesanwalt, "unbestraft Amtsgeheimnisse an den Mann zu bringen, dann wäre die Folge eine Zerstörung auch der Staatsordnung."

So reden die, die Snowden, Manning und Pätsch als Kriminelle betrachten. So hatten schon die Reichsrichter geredet, die 1931 den späteren Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky hinter Gitter brachten. Pätschs Richter haben 1963 anders geredet; sie sprachen ihn vom Landesverrat frei und verurteilten nur wegen "Verletzung der Amtsverschwiegenheit" zu vier Monaten mit Bewährung; in schwerwiegenden Fällen sei, so hieß es in diesem Urteil, die unmittelbare öffentliche Publikation zu akzeptieren. Leider ist diese Rechtsprechung nie mehr präzisiert worden.

Eine Vorhersage aus dem Jahr 1812, die immer noch stimmt

Ossietzky, Herausgeber der Weltbühne, hatte dort 1929 einen Aufsatz mit dem Titel "Windiges aus der Luftfahrt" veröffentlicht, in dem über die illegale "Schwarze Reichswehr" und deren heimlichen Aufbau berichtet wurde. Dieser Publikation wegen wurde Ossietzky ebenso wie Walter Kreiser, der Autor des Aufsatzes, zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Begründung: Der einzelne Staatsbürger sei nicht berechtigt, gesetzwidrige Zustände öffentlich zu machen, von denen er wisse, dass diese im Interesse des Wohls seines Vaterlands geheim zu halten seien. Das Urteil verursachte internationale Empörung, zumal in der US-Presse. Die Empörung trug dazu bei, dass Ossietzky der Friedensnobelpreis für 1935 verliehen wurde.

Als Ossietzky am 10. Mai 1932, in den letzten Monaten der Weimarer Republik, in Berlin-Tegel seine Haft wegen Landesverrat antreten musste, verabschiedeten ihn in einem nahegelegenen Wäldchen seine Freunde, darunter Arnold Zweig, Erich Mühsam, Alfred Polgar, Lion Feuchtwanger, Hermann Kesten und Roda Roda. Ernst Toller hielt eine kurze bittere Ansprache, in der er sich auf ein "nun wieder aktuell gewordenes Wort" des Dichters Christoph Wieland bezog. Es lautet so: "Wer sich erkühnen wird, Wahrheiten zu sagen, an deren Verheimlichung den Unterdrückern gelegen ist, wird Ketzer und Aufrührer heißen und als Verbrecher bestraft werden." Die Vorhersage stammt aus dem Jahr 1812. 2014 stimmt sie immer noch. Im demokratischen Rechtsstaat sollte es anders sein.

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