TTIP-Faktencheck: Arbeitnehmerrechte:Machtgefälle in Fabrik und Büro

TTIP Arbeitnehmer

Verschiebt TTIP das Machtgefälle zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern?

(Foto: Marcus Brandt/dpa)

Mitbestimmung? Gewerkschafter im Aufsichtsrat? Wenig ist den USA fremder als die Kultur auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Das schürt Misstrauen, was das Freihandelsabkommen TTIP für die Arbeitnehmerrechte bedeutet. Was an den Sorgen dran ist und welche Rolle das Scheitern der FDP dabei spielt.

Von Detlef Esslinger

Worum geht es eigentlich?

TTIP ist kein Abkommen, dessen Zweck es sein soll, die Rechte von Arbeitnehmern zu schützen oder gar auszubauen. TTIP ist ein Abkommen, das Handel und Investitionen zwischen den USA und der EU erleichtern soll. Die Rechte von Arbeitnehmern sind trotzdem - oder gerade deshalb - ein großes Thema bei den Verhandlungen. Mehr Handel bedeutet bereits per se mehr Wettbewerb, mehr Wettbewerb bedeutet oft mehr Druck auf die Errungenschaften von Arbeitnehmern.

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"Hoffnung oder Hysterie: Was bedeutet das Freihandelsabkommen TTIP für uns?" Diese Frage hat unsere Leser in der sechsten Abstimmungsrunde des Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Dieser Beitrag ist Teil eines Dossiers, das sie beantworten soll. Alles zur TTIP-Recherche finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Hinzu kommt, dass unterschiedliche Traditionen die Basis der Verhandlungen bilden: Die freie Marktwirtschaft der Vereinigten Staaten ist generell von großem Zutrauen in die regulierenden Fähigkeiten von Angebot und Nachfrage gekennzeichnet. Die soziale Marktwirtschaft der meisten EU-Länder setzt hingegen darüber hinaus auf den regulierenden Staat - um jedwedes Machtgefälle zwischen Angebot (also Arbeitnehmern) und Nachfrage (also Arbeitgebern) auszugleichen.

Wie sind die Ausgangslagen?

Unterschiedliche Kulturen und Traditionen prägen auch die Ausgangslagen. Wenig ist Amerikanern fremder als das deutsche Modell der Mitbestimmung, mit Betriebsräten und Gewerkschaftern in Aufsichtsräten. Das gilt nicht nur für Politiker und Arbeitgeber, sondern auch für Arbeitnehmer. Wie die Stimmung ist, illustrierte im Februar 2014 eine Abstimmung im VW-Werk von Chattanooga. Mit 712 zu 626 Stimmen votierten dort die Arbeitnehmer gegen einen Betriebsrat und das Angebot der Gewerkschaft United Auto Workers (UAW), sie künftig bei Tarifverhandlungen zu vertreten.

Gewerkschaften sind in den USA eigentlich nur noch im öffentlichen Dienst von Bedeutung, in der Industrie verlieren sie an Bedeutung. Im Silicon Valley werden sie nie eine erreichen. In den USA gibt es seit jeher ein Misstrauen gegen jede Form von Kollektivorganisationen, erst recht, wenn die international sind. In Europa ist es eher andersherum. Alle EU-Staaten haben sämtliche acht Kernarbeitsnormen der International Labor Organization (ILO) ratifiziert:

  • die Koalitionsfreiheit, also auch das Recht der Beschäftigten, sich frei zu organisieren, etwa in Gewerkschaften
  • das Recht auf kollektiv verhandelte Tarifverträge
  • Übergangsregelungen zur Zwangsarbeit
  • die Abschaffung der Zwangs- und Pflichtarbeit allgemein, vor allem wegen des Einsatzes von Häftlingen für private Unternehmen
  • gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Mann und Frau
  • ein Mindestalter für den Eintritt in ein Arbeitsverhältnis
  • das Verbot der Diskriminierung in der Arbeitswelt wegen Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Religion, politischer Meinung, nationaler und sozialer Herkunft
  • das Verbot der "schlimmsten Formen" von Kinderarbeit

Die USA hingegen haben nur zwei dieser Normen ratifiziert, die letztgenannte zur Kinderarbeit und die zu den Übergangsregeln zur Zwangsarbeit.

Wie argumentieren die Gegner?

Die deutschen Gewerkschaften sind nicht unbedingt Gegner von TTIP, wohl aber Skeptiker. Sie befürchten, dass vor allem die Klauseln zum Investitionsschutz und zu Schiedsgerichten ein Instrument sein könnten, Arbeitnehmerrechte zu schleifen - weil Investoren womöglich gegen unliebsame Neuregelungen im Sinne der Beschäftigten klagen könnten. Der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, zum Beispiel sagt: "Ausländische Investoren dürfen in der EU keine Möglichkeiten erhalten, die europäischen Gerichte durch Anrufung von Schiedsgerichten zu umgehen, um so Staaten unter Druck zu setzen."

Als abschreckendes Beispiel führen Gewerkschafter oft den Versuch des französischen Unternehmens Veolia von 2012 an, gegen die Erhöhung des Mindestlohns in Ägypten vorzugehen, eine Erhöhung von 41 auf 72 Euro. Das Verfahren läuft noch. Veolia argumentiert, die Erhöhung des Mindestlohns werfe alle Kostenpläne über den Haufen und stelle damit die gesamte Kalkulation der Investition in Frage.

Gewerkschafter befürchten, dass Europäer und Amerikaner sich bei den Arbeitnehmerrechten auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen werden. Sie fordern daher, dass die Rechte der Arbeitnehmer und die Arbeitsstandards "mindestens" auf dem Niveau der ILO-Kernarbeitsnormen vertraglich festgeschrieben werden, wie IG-Metall-Chef Detlef Wetzel kürzlich sagte. Andernfalls würden in der künftigen Freihandelszone "Kosten und Standards auf ein Niveau abgesenkt werden, das mit dem chinesischen konkurrieren kann". Am meisten fürchten die Gewerkschaften, dass Vereinbarungen in TTIP ihr Recht und ihre Möglichkeiten in Frage stellten könnten, Tarifverträge auszuhandeln. Lohndumping könnte dann die Folge sein.

Gewerkschafter sind aber nicht die einzigen Skeptiker. Es gibt auch Unternehmen, die schon wegen ihres Geschäftsmodells ein Interesse an hohen Standards haben - die Unfallversicherer. Sie befürchten unter anderem, dass Regeln zum Arbeitsschutz im Betrieb als "nicht tarifäres Handelshemmnis" gewertet und damit zum Gegenstand von Verhandlungen werden. Joachim Breuer, der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, sagte in der FAZ: "Konkret ist zu befürchten, dass Staaten auf Verbesserungen der betrieblichen Prävention verzichten oder ihre sozialen Sicherungssysteme privatisieren."

Wie argumentieren die Befürworter?

Unternehmer sind von Natur aus Menschen, die eher Chancen betonen; die EU-Kommission und die Bundesregierung machen es in diesem Fall genau so. Andernfalls könnten sie sich die Verhandlungen ja auch sparen. Das Bundeswirtschaftsministerium zum Beispiel bestreitet ausdrücklich, dass es bei TTIP auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinauslaufen werde. Es gehe darum, "unnötige Unterschiede zu identifizieren und aus dem Weg zu räumen". Jede Seite behalte das Recht, Sicherheits- und Gesundheitsangelegenheiten so zu regeln, wie sie es für angebracht halte.

In der Antwort auf eine Große Anfrage der Linken-Bundestagsfraktion hat die Bundesregierung im Juli zudem begründet, warum sie in den Klauseln zum Investitionsschutz und zu den Schiedsgerichten keine Bedrohung für deutsche Arbeitnehmer sehe. Alle Regelungen zu Arbeitsschutz, Kündigungsschutz, Mutterschutz oder Schutz bei Krankheit würden durch TTIP nicht zur Disposition gestellt, sofern sie nicht zwischen ausländischen und inländischen Investoren diskriminieren "und sofern sie verhältnismäßig sind" (Antwort zu Frage Nr. 36).

Glaubt man den Amerikanern, sind alle Ängste sowieso unbegründet. Ihr Chefunterhändler Michael Froman sagt - immerhin ohne irgendeinen einschränkenden Nebensatz anzuschließen: "Nichts in TTIP wird Standards senken. Wir haben keine Deregulierungsagenda." Hier verhandelten die Vertreter zweier Wirtschaftsräume miteinander, in denen relativ hohe Löhne gezahlt würden und die schon deshalb ein Interesse hätten, dass im Rest der Welt die Rechte der Arbeitnehmer besser geschützt würden.

Nahezu wortgleich äußert sich der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Und was die Kernarbeitsnormen der ILO betrifft, hat die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) eine Idee: Man brauche diese nicht in TTIP zu integrieren, da gebe es eine bessere Möglichkeit: nämlich ein ausdrücklicher Verweis auf eine einschlägige ILO-Erklärung von 1998, die alle Mitgliedstaaten angenommen hätten - also auch die USA.

Fazit

Interessant ist, dass die Skeptiker mit handfesten und konkreten Beispielen argumentieren, während die Befürworter mitunter rein deklaratorisch formulieren, relativierende Nachsätze verwenden ("sofern sie verhältnismäßig sind") oder etwas unbestimmt formulieren (Was genau sind "unnötige Unterschiede"?).

In der Regel macht es jemanden verdächtig oder zumindest weniger glaubwürdig, wenn er rhetorische Umwege baut. In diesem Fall bleibt den Verhandlern allerdings kaum anderes übrig: Legten sie sich zu früh fest, würden sie schlecht taktieren - es könnte ja sein, dass die Gegenseite einen Punkt genauso sieht wie sie, die Festlegung aber dankbar benutzt, um eine Meinungsverschiedenheit zu simulieren, die in einem ganz anderen Punkt ein Nachgeben erzwingen soll.

Es wäre daher verwegen, eine detaillierte Prognose über die Arbeitnehmerrechte in TTIP anzustellen. Verhandlungen sind ja auch dazu da, Misstrauen abzubauen, das vielleicht nur deshalb besteht, weil noch nie Anlass bestand, sich über Ziele und Methoden im Arbeitnehmerschutz auszutauschen.

Die Befürchtungen von Gewerkschaftern und Versicherern sind durch Erfahrung gestützt, die Empfehlungen der Arbeitgeber aber auch: Wenn die USA bisher schon sechs der acht ILO-Kernarbeitsnormen nie ratifiziert haben, werden sie es nun bestimmt nicht den Europäern zuliebe tun. Muss man also die Apologeten der freien Marktwirtschaft im amerikanischen Kongress und in den Bundesstaaten zwingend mit diesen Normen konfrontieren, wenn doch auch ein Verweis auf die ILO-Erklärung von 1998 den Zweck erfüllt?

In der Antwort auf die Linken-Anfrage hat sich die Bundesregierung im Allgemeinen und das Bundeswirtschaftsministerium im Besonderen eindeutig festgelegt, was die Arbeitnehmerrechte betrifft. Die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen werde "von besonderer Bedeutung" bei der Beurteilung des Verhandlungsergebnisses sein. "Die Bundesregierung steht in dieser Frage in fortlaufendem Kontakt mit der Europäischen Kommission, die betont, dass das hohe Schutzniveau in Europa nicht zur Disposition steht, und mit den Sozialpartnern. Im Verhandlungsmandat sind hierzu klare Vorgaben enthalten."

Wie ist das zu bewerten? Sagen wir's mal so: An der Spitze des Wirtschaftsministeriums steht derzeit der Vorsitzende der SPD, und nicht mehr der der FDP.

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