Kämpfe in Ostukraine:Raketenbeschuss nach Google Maps

Kämpfe in Ostukraine: Die ukrainische Armee nutzt den Mehrfach-Raketenwerfer Grad, genauso wie die prorussischen Separatisten. Ungenauigkeiten gibt es auf beiden Seiten.

Die ukrainische Armee nutzt den Mehrfach-Raketenwerfer Grad, genauso wie die prorussischen Separatisten. Ungenauigkeiten gibt es auf beiden Seiten.

(Foto: AP)

"Links von was, verdammt? Wohin? Ost, West, Nord?" So klingt es, wenn ukrainische Soldaten versuchen, im Kampf gegen die prorussischen Separatisten das nächste Ziel auszumachen. Das digitale Tagebuch eines Militärhistorikers in Donezk verrät: Zur Not muss das Smartphone zur Orientierung herhalten.

Von Tim Neshitov

Wenn Separatisten in der Ostukraine sich über die ukrainische Armee lustig machen, schwingt Stolz mit. Manche Milizen sind besser bewaffnet als die ukrainischen Soldaten, die oft mit Waffen aus der Sowjetzeit in den Kampf ziehen.

Wenn aber ukrainische Freiwillige, die in paramilitärischen Verbänden kämpfen, über die Ausrüstung ihrer vernachlässigten, verfilzten Armee herziehen, schwingt Verzweiflung mit, und die klingt in diesem Propagandakrieg glaubwürdiger als Meldungen des Generalstabs in Kiew. Man kann Blogger des ukrainischen Militärforums reibert.info kaum verdächtigen, demoralisierende Propaganda zugunsten des Gegners zu betreiben.

Auf reibert.info schilderte in der vergangenen Woche ein Freiwilliger, der an der Belagerung der Separatistenhochburg Donezk teilnimmt, wie die ukrainische Arme diese Metropole beschießt. Einige Haubitzenbatterien hätten weder Rechner noch Karten. Die Soldaten würden nach Google Maps auf ihren Handys schießen. Zwei Artilleristen unterhalten sich (am Handy):

"200 Meter weiter links."

"Links von was, verdammte Scheiße? Wohin? Ost, West, Nord?"

"Links von mir!"

"Du Depp, wo steckst du denn?"

"Auf dem Hügel!"

"Auf welchem Hügel?! Wo genau stehst du? Wo scheint die Sonne denn hin, wie stehst du Depp zu Donezk?!"

Ungenauigkeiten auf beiden Seiten

Andrej Sablozki, ein 28 Jahre alter Geschichtslehrer, der in Donezk ausharrt, hat dieses Gespräch in seinem "Östlichen Tagebuch" gepostet, das er seit zwei Monaten im sozialen Netzwerk vk.com führt. Für Sablozki bedeuten sein Computer (Lenovo G 580) und sein Handy (Sony Xperia V) die Möglichkeit, sich der Außenwelt mitzuteilen und mit seiner Frau zu kommunizieren, die nach Kiew ausgereist ist.

"Da ich als Historiker auf den Großen Vaterländischen Krieg (Zweiter Weltkrieg - Red.) spezialisiert bin, weiß ich, wie selten persönliche Quellen überliefert werden, Tagebücher, Briefe, Berichte von Zeitzeugen", schrieb er am 18. Juni. "Meine eigene Teilnahme an den Ereignissen werde ich nicht in den Mittelpunkt stellen (einerseits zugunsten der Objektivität, andererseits um einer späteren Abrechnung mit meiner Wenigkeit zu entkommen)."

Vk.com hat im russischsprachigen Raum, wozu große Teil der Ukraine zählen, mehr als 100 Millionen Nutzer. Facebook hat hier deutich weniger. Sablozkis Berichte fallen tatsächlich durch einen neutralen Ton auf. Am Ende seines Eintrags zur miserablen Ausrüstung ukrainischer Artilleristen etwa schreibt er: "Ich möchte aus meiner Sicht hinzufügen, dass die DNR'ler (Abkürzung für die ,Donezker Volksrepublik') ziemlich ähnlich schießen."

Alles absperren

Die Separatisten schießen, wie auch die ukrainische Armee, mit "Grad", den Mehrfach-Raketenwerfern, die für ihre Ungenauigkeit bekannt sind. "Grad" heißt auf Russisch "Hagel". Dadurch, dass man sie mit Google Maps bedient, werden die Raketenwerfer auch in den Händen der Separatisten nicht genauer.

Aber Sablozki hält nichts von Meldungen, nach denen die Separatisten absichtlich Wohnviertel beschössen, um die Schuld der ukrainischen Armee in die Schuhe zu schieben. "Manche Journalisten und Pro-Maidan-Aktivisten behaupten, zu den Orten des Beschusses würden frühzeitig russische Journalisten kommen", schrieb er am 14. August, wenige Stunden nachdem das Stadtzentrum beschossen wurde, unweit seines Wohnortes. Mindestens zwei Menschen starben an dem Tag, das Gebäude der Technischen Uni wurde beschädigt. Sablozki ist sich sicher, dass die ukrainische Armee geschossen hatte .

"Bekannte von der Uni erzählten vor ein paar Tagen, sie hätten einen Anruf aus Kiew bekommen: Sie sollten alles absperren und bis 26. August nicht zur Arbeit erscheinen. Damals hielt ich es nicht für wichtig."

"Es sieht nicht danach aus, dass die Armee Donezk einnehmen kann"

Kämpfe in Ostukraine: Keller des Krankenhauses an der Rosa-Luxemburg-Str., in dem Andrejs Onkel operiert werden sollte.

Keller des Krankenhauses an der Rosa-Luxemburg-Str., in dem Andrejs Onkel operiert werden sollte.

(Foto: Andrej Sablozkij)

Eine Bombe habe das Wischnewski-Krankenhaus an der Rosa-Luxemburg-Straße getroffen. Dort sollte Andrejs Onkel operiert werden, die Patienten wurden in den Keller gebracht. Der Onkel sei mittlerweile ausgereist, um in Russland operiert zu werden. Das Haus 58a in der Artjomstraße sei zerstört. Im Haus 58b wuchs Sablozki auf. "Im Hof dieses Hauses spielte ich im Sandkasten, dort trank ich Bier (später Wodka), von dort brach ich zur Uni und zur Arbeit auf."

Vergangener Sonntag, 20 Uhr 36: "Das Pumpwerk ist vom Stromnetz abgeschnitten. Ab 21 Uhr gibt es kein Wasser."

20 Uhr 55: "Nach dem Beschuss riecht es stark nach Rauch."

20 Uhr 56: "Hab noch schnell geduscht, die Böden gewischt (hatte es eine Woche vor mir hergeschoben), sitze nun und warte, ob die Badewanne noch voll wird."

22 Uhr 05: "Ein Gewitter bricht aus!"

23 Uhr 07: "Regen und Beschuss spornen offenbar zur Kreativität an." Sablozki hat den französischen Chanson-Klassiker "Tout va très bien, Madame la Marquise" auf Russisch umgedichtet: "Euer Schloss ist ausgebrannt, das Feuer hat die Stadt erfasst, das Pumpwerk ist vernichtet, nun hocken wir da ohne Wasser. Aber abgesehen davon, Frau Marquise, geht alles sehr gut."

Kämpfe in Ostukraine: Alltag in Donezk: Ausgebranntes Auto am Lenin-Prospekt, Sonntagvormittag.

Alltag in Donezk: Ausgebranntes Auto am Lenin-Prospekt, Sonntagvormittag.

(Foto: Andrej Sablozkij)

Separatisten telefonieren nur noch

Man kann Andrej Sablozki am Handy erreichen. Anders als in Lugansk, der anderen belagerten Großstadt unter der Kontrolle der Separatisten, gibt es in Donezk meistens Empfang. Am Montagnachmittag telefoniert Sablozki am Steuer, er kommt von einer Automechanikerin, einer älteren Dame namens Nikitischna, die diese Tage noch geöffnet hat und in der Lage war, die Heckscheibe zu reparieren. "Die Heizung war seit langem kaputt. Eine großartige Omi!"

Die Badewanne sei zwar nicht ganz voll geworden, aber Trinkwasser, Nudeln und Konserven haber er genug vorrätig. Die Stimmung in Donezk wende sich. "Aus Russland sind sehr viele Waffen durchgesickert. Es sieht nicht danach aus, dass die Armee Donezk einnehmen kann. Aber sie werden uns lange beschießen."

Sablozki sagt, die Separatisten würden keine Walkie-Talkies mehr benutzen, sondern ausschließlich per Handy kommunizieren. "Walkie-Talkie-Gespräche kann sogar ich stören, man muss nur deren Frequenz rausfinden, und sie dann mit Signalen zuballern. Handys sind sicherer." Die ukrainische Armee übe Druck auf Mobilfunkgesellschaften aus, da der Feind nur noch telefoniert beziehungsweise die Walkie-Talkie-App Zello benutzt. "Wenn sie eine Offensive starten, sorgen sie dafür, dass es vorübergehend keinen Empfang gibt." In Donezk war so ein totales Funkloch zuletzt am 6. August, mehrere Stunden am Nachmittag.

Warnhinweis: Beschuss

In Lugansk, 150 Kilometer weiter nordöstlich, gibt es seit Wochen so gut wie keinen Handyempfang. "Ein Freund von mir lebte dort, nun ist er in Moskau", sagt Sablozki. "Vor jeder Bombardierung war der Empfang weg. Als er sich wieder meldete, war es jedes Mal wie eine Wiedergeburt."

Flüchtlinge aus Lugansk dagegen, die in Kiew die Internetseite informator.lg.ua betreiben, sagen, die Sendemasten in Lugansk seien zerstört. "Die Separatisten wollen nicht, dass die Menschen Kontakt zur Außenwelt haben", sagt ein Flüchtling am Telefon aus Kiew. "Es gab zwei Orte, an denen man noch telefonieren konnte, auf dem Okuliza-Markt und nahe des Cafés Disco. Da ging man hin und telefonierte. Die Separatisten schossen in die Menge. Nun hängen da Absperrbänder mit dem Warnhinweis: Beschuss."

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