Hitler-Stalin-Pakt 1939:Deutschlands verzerrter Blick

Molotow unterzeichnet den Hitler-Stalin-Pakt

Der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop (Mitte) und der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow (vorn sitzend) unterzeichnen in Moskau den deutsch-russischen Nichtangriffspakt. Rechts neben Ribbentrop stehen Josef Stalin, links Boris Schaposchnikow, der Generalstabschef der Roten Armee. Ganz rechts Stalins Dolmetscher Wladimir Pawlow.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Der Hitler-Stalin-Pakt war eine Voraussetzung für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Historiker Stefan Troebst erläutert, warum das Abkommen vom 23. August 1939 in der deutschen Erinnerung dennoch kaum beachtet wird.

Von Barbara Galaktionow

SZ.de: Der Hitler-Stalin-Pakt gilt als eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Nazi-Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel - und damit den Zweiten Weltkrieg auslöste. Warum hat der Tag im kollektiven Gedächtnis der Deutschen trotzdem keine herausragende Rolle?

Stefan Troebst: Das hat mit Deutschlands verzerrter Sicht auf den Zweiten Weltkrieg zu tun. In unserem Geschichtsbild ist zwar verankert, dass der Krieg am 1. September 1939 begonnen hat, manche wissen auch, dass das etwas mit Polen zu tun hatte. Aber das zentrale Ereignis für die Deutschen ist das "Unternehmen Barbarossa" am 22. Juni 1941, also der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Ein gutes Beispiel dafür ist der populäre ZDF-Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter" vom vergangenen Jahr, in dem die zwei Jahre vor dem Sommer 1941 weitgehend ausgeblendet werden.

Werden also die vielen Opfer und die massiven Zerstörungen, die der Zweite Weltkrieg gerade in Polen verursachte, in der Bundesrepublik und Russland ignoriert?

Die heutige deutsche und die russische Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs sind sich insofern sehr ähnlich, als in beiden Fällen der 22. Juni 1941 den Auftakt des "eigentlichen" Krieges im Osten bildet und der 8./9. Mai 1945 sein Ende. In Russland wird nach wie vor die Stalinsche Formel vom Großen Vaterländischen Krieg verwendet und da stehen zwingend immer die beiden Jahreszahlen 1941 und 1945 dabei.

Der Hitler-Stalin-Pakt

Am 23. August 1939 einigten sich Nazi-Deutschland und die Sowjetunion auf einen Nichtangriffspakt. Dieser ging als Hitler-Stalin-Pakt oder auch Molotow-Ribbentrop-Pakt (benannt nach den Außenministern der beiden Länder, die das Dokument unterzeichneten) in die Geschichte ein. Besondere Brisanz erhielt der Pakt durch das Geheime Zusatzprotokoll, in dem die beiden Länder Ostmitteleuropa unter sich aufteilten. Moskau sollte Bessarabien, Finnland und die baltischen Staaten Estland und Lettland erhalten, Litauen sollte Berlin zugeschlagen werden (tatsächlich fiel das Land später auch unter Kontrolle der UdSSR). Polen sollte geteilt werden. Der Nichtangriffspakt ermöglichte es Hitler-Deutschland, Polen am 1. September 1939 zu überfallen, ohne ein Eingreifen der Sowjetunion befürchten zu müssen.

Die zwei Jahre von 1939 bis 1941 werden einfach außer Acht gelassen?

Die militärische Aggression der Sowjetunion gegen Polen wird in Russland nicht als Teil des Zweiten Weltkriegs betrachtet, sondern als Korrektur der Geschichte. Man sieht es als Befreiung eines Territoriums, das historisch zum Moskauer Staat, zum Zarenreich gehört hat.

Und das hat sich auch nicht damit geändert, dass das Geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt, dessen Existenz in der UdSSR über Jahrzehnte hinweg geleugnet wurde, nun auch in Russland anerkannt wird? Immerhin haben Deutschland und die Sowjetunion darin die ostmitteleuropäischen Staaten völlig skrupellos zwischen sich aufgeteilt.

In der Sowjetunion wurde die Authentizität des Dokuments erst am Weihnachtsabend 1989 offiziell anerkannt - durch einen förmlichen Beschluss des Kongresses der Volksdeputierten. Heute argumentieren 90 Prozent aller Historiker in Russland so: Es hat ein Geheimes Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt gegeben. Der Pakt und das Zusatzprotokoll waren aber defensive Maßnahmen gegen die Aggressivität des nationalsozialistischen Deutschlands. Stalin sei 1939 wegen der militärischen Defizite der Sowjetunion nichts anderes übriggeblieben, als angesichts eines möglichen Angriffs Deutschlands auf Zeit zu spielen.

Ist an dieser Sichtweise nicht tatsächlich etwas dran?

Sie ist nicht ganz falsch. Der stalinistische Terror in den 1930er Jahren hat die sowjetischen Streitkräfte brutal getroffen. Die gesamte Generalität und große Teile des Offizierskorps wurden in den Jahren 1936 bis 1938 physisch liquidiert - die Rote Armee war also 1939 weitgehend kopflos. Richtig ist zudem, dass Stalin außenpolitisch eine Schaukelpolitik betrieben hat zwischen den Westmächten und dem Dritten Reich. Seine Linie war: "Wer mir das bessere Angebot macht, mit dem paktiere ich" - und das war Hitler mit den Gebietszusagen im Geheimen Zusatzprotokoll.

Warum Polen und Balten Russland als Aggressor wahrnehmen

Heinz Guderian und General Kriwoschin in Polen, 1939

Bestes Einvernehmen: Der deutsche General Heinz Guderian (links vorne auf dem Podest) und der russische Brigadegeneral Semjon Kriwoschein im September 1939 bei einer gemeinsamen Parade im polnischen Brest-Litowsk.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Wie erinnern sich denn Polen und die baltischen Staaten an den Hitler-Stalin-Pakt?

In Polen wird er ganz klar als Startschuss zum - ohne Kriegserklärung erfolgten - Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September und zum Einmarsch sowjetischer Truppen in den Ostteil Polens am 17. September 1939 gesehen. Im Gegensatz zu Deutschland ist in Polen auch die militärische und geheimdienstliche Kooperation der beiden Okkupationsmächte noch sehr präsent. Um ein Beispiel zu nennen: In Polen sind Fotografien der gemeinsamen Militärparade von Wehrmacht und Roter Armee in Brest-Litowsk Ende September 1939 allgegenwärtig.

Wird das in den baltischen Staaten genauso gesehen?

In Estland, Lettland und Litauen wird vor allem die Aggressivität der Sowjetunion betont. Stalin hat sich ja im Zuge des Paktes alle drei Staaten einverleibt. Deutschland kam im Baltikum erst im Sommer 1941 durch den Vormarsch der Wehrmacht ins Spiel. Dieser Vormarsch wurde von den meisten Bewohnern der drei baltischen Staaten als Befreiung von der sowjetischen Besatzung begrüßt.

Historiker Stefan Troebst

Stefan Troebst ist Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen historischer Erinnerung in Europa. Unter anderem hat er den Sammelband "Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer" (Wallstein Verlag Göttingen 2011) mit herausgegeben.

Der Westteil der Ukraine gehörte bis September 1939 zu Polen. Als Folge des Hitler-Stalin-Pakts wurde er der Sowjetunion zugeschlagen. Unterscheidet sich also die Sichtweise auf den Nichtangriffspakt im Westen und Osten der Ukraine?

Nein. Die Westukraine rechnet sich ja historisch nicht Polen zu, sondern war schon vor 1939 die Hochburg des ukrainischen Strebens nach Eigenstaatlichkeit. Der Einmarsch der Roten Armee infolge des Pakts wird daher bislang in der gesamten Ukraine positiv gesehen. Die Rede ist vom "Goldenen September 1939", in dem die widerrechtlich von den Polen "geraubte" Westukraine der Ukraine zurückgegeben wurde. Ganz ähnlich wird bis heute in Weißrussland argumentiert.

Den baltischen Staaten ist es ja interessanterweise später gelungen, den 23. August positiv umzudeuten.

In den baltischen Sowjetrepubliken war der Hitler-Stalin-Pakt der Angelpunkt der eigenen Erinnerungskultur. Der 23. August 1939 galt als der Tag, an dem die erst zwei Jahrzehnte zuvor errungene Eigenstaatlichkeit durch die Absprache zweier totalitärer Diktaturen zerstört wurde. In den späten 1980er Jahren haben sich Historiker aus den baltischen Staaten intensiv mit der Frage der Authentizität des Geheimen Zusatzprotokolls beschäftigt. Und am 50. Jahrestag des Pakts, am 23. August 1989, wurde aus Protest gegen die sowjetische Annexion eine Menschenkette gebildet, die von Tallinn über Riga bis nach Vilnius reichte. Sie war mehr als 600 Kilometer lang. Das fand 2009 insofern eine Fortsetzung, als das Europäische Parlament auf Betreiben der Balten den 23. August zum "Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus" erklärte.

Der Tag wird also in der EU jetzt hoch gehalten?

Wie man's nimmt. Der Gedenktag wird auf EU-Ebene in diesem Jahr in der lettischen Hauptstadt Riga begangen. Da werden die Justizminister einer Reihe von EU-Staaten zusammenkommen. Das halte ich in gewisser Weise für bezeichnend. Die Zuständigkeit für eine gesamteuropäische Erinnerung wird den Justizministern übertragen - nicht etwa den Staats- und Regierungschefs oder zumindest den Außenministern. Ich bin gespannt, ob dieser europäische Gedenktag an diesem 23. August in Deutschland in offizieller Form begangen wird. Ich glaube nicht.

Die Ukraine-Krise und der Umgang damit wird von Polen und den baltischen Staaten mit großer Sorge beobachtet. Wird in dem Zusammenhang Bezug genommen auf den Hitler-Stalin-Pakt?

Das ist eher eine entfernte Erinnerung. Russland wird im Baltikum und Polen prinzipiell für eine expansionistische Macht gehalten. Eine militärische Aggression gegen das eigene Staatsgebiet wird daher nicht ausgeschlossen. In Estland gibt es im Nordosten des Landes eine große russischsprachige Minderheit, und entsprechend kann man sich dort gut ein Szenario wie im Osten der Ukraine oder gar auf der Krim vorstellen. Auch Polen hat eine unmittelbare Grenze zu Russland, nämlich zur russischen Exklave Kaliningrad, was in Deutschland oft vergessen wird.

Warum Frau Ribbentrop-Merkel durchs Netz geistert

Polen und die baltischen Staaten sind mittlerweile in der EU und der Nato. Trotzdem scheinen sie sich oft nicht ganz sicher zu sein, ob Deutschland ein verlässlicher Partner ist.

In den vergangenen Jahrhunderten haben deutsche und russische Staats- und Reichsbildungen ihre bilateralen Probleme mehrmals auf Kosten Polens gelöst. Das klassische Beispiel sind die drei Teilungen des Landes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwischen Preußen, Russland und der Habsburgermonarchie. Aus polnischer Sicht gehört der Hitler-Stalin-Pakt in diese historische Kontinuitätslinie. Es gab sogar bei Abschluss des deutsch-russischen Vertrags über die North-Stream-Gaspipeline vom Finnischen Meerbusen nach Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2005 Fotomontagen in polnischen Zeitungen, auf denen der russische Präsident Wladimir Putin und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in derselben Pose wie die Außenminister Ribbentrop und Molotow 1939 in Moskau abgebildet wurden. Der Vertrag wurde als "Putin-Schröder-Pakt" karikiert.

Ähnliche Karikaturen gibt es auch in der Ukraine. Als Kanzlerin Merkel bei der Fußball-WM Putin traf, kursierten in sozialen Netzwerken Fotomontagen, die Merkel als Nazi-Außenminister Ribbentrop zeigen - und Putin als Molotow oder Stalin. Geht so etwas nicht an der heutigen Wirklichkeit vorbei?

Heute, im Sommer 2014, ist diese Ansicht sicher falsch. Aber bis zum Frühjahr 2014 war diese Sichtweise doch in gewisser Weise nachvollziehbar. Außenminister Steinmeier und andere führende Vertreter der SPD haben mit Blick auf die Invasion, Okkupation und schließlich Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland zu Anfang wenn nicht Partei für Moskau ergriffen, so doch deutlich "Verständnis" für Putins Expansionsstreben gezeigt. Sie argumentierten, dass die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation zwar völkerrechtswidrig, historisch aber nachvollziehbar sei: Sie habe historisch schon immer zu Russland gehört, und Chruschtschow hätte sie 1954 eigenmächtig der Ukraine "geschenkt".

Und das stimmt nicht?

Aus Historikersicht ist das eine bizarre Argumentation! Denn die Krim war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein eigener Staat, nicht Teil Russlands, und die Übergabe der Krim an die ukrainische Teilrepublik der UdSSR hatte ganz konkrete infrastrukturelle und ökonomische Gründe.

Werden Polen und die baltischen Staaten von der EU in die Ukraine-Krise ausreichend eingebunden?

Anfangs hat gerade die Bundesregierung sich intensiv bemüht, Warschau einzubinden, im sogenannten Weimarer Dreieck, bestehend aus Frankreich, Polen und Deutschland. Inzwischen ist die EU von dieser Dreiecksvariante wieder abgekommen. Ich befürchte, dass Paris und Berlin sich unter russischen Druck setzen lassen. Moskau ist der Meinung, dass Polen prinzipiell russlandfeindlich eingestellt ist, dass Warschau die Ukraine nichts angeht und es deshalb auch nicht einbezogen werden sollte. Wie sich das im Nato-Rahmen ausnimmt, wird der Nato-Gipfel in Wales Anfang September zeigen.

Sehen Sie für Deutschland eine besondere Verpflichtung, sich im gegenwärtigen Konflikt für die Interessen der ostmitteleuropäischen Staaten einzusetzen?

Deutschland ist in doppelter Hinsicht in der Pflicht. Einerseits als größtes EU-Land, dem andere Mitgliedsstaaten, allen voran Polen, verstärkt eine außenpolitische Führungsrolle zuweisen. Andererseits aus seiner Geschichte im 20. Jahrhundert heraus, zu der gerade auch der Hitler-Stalin-Pakt gehört. Durch sein Handeln sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg hatte Deutschland beträchtlichen Anteil daran, dass die Osthälfte Europas heute so aussieht, wie sie aussieht. Das Argument "Donezk ist doch Hunderte von Kilometern entfernt, was geht uns das an", kann von deutscher Seite deshalb nicht vorgebracht werden. In beiden Weltkriegen standen deutsche Truppen auf der Krim und in Donezk.

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