Werbung im Internet:Du willst es doch auch

Innerhalb einer Minute rauschen weltweit zehn Millionen Werbeanzeigen durchs Netz. Das nervt? Noch. Bald fällt Werbung womöglich gar nicht mehr auf.

Von Dirk von Gehlen

Es ist ein brüllendes Flüstern, das den Mann im Trenchcoat auszeichnet. "He, du", zischt er in einem Tonfall, der gleichzeitig laut, aber auch vertraulich sein will. Schlemihl schleicht als Verkäufer durch die Sesamstraße und versucht dubiose Geschäfte anzubahnen. Arglos lässt sich der geduldige Ernie in der Kinderserie immer wieder in Gespräche verwickeln, die stets diesem Muster folgen: Auf sein erstauntes "Wer, ich?" erhält er ein mahnendes "Psssst". Ernie wiederholt also leiser "Wer, ich?", was Schlemihl mit einem wissenden "Genaaaau. . ." belohnt.

Verkaufslektion für Anfänger: Eine bestätigte Gemeinsamkeit zwischen Werbendem und Umworbenem schafft Vertrauen und signalisiert: "Wir liegen doch auf einer Wellenlänge, wir gehören zusammen." Was dann folgt, ist ein aus der Innenseite des Mantels präsentierter Buchstabe ("Möchtest du ein A kaufen?") oder ein anderes merkwürdiges Produkt, dessen Sinnhaftigkeit Ernie nicht gleich einleuchten will - wie der schmelzende Schneemann oder das unsichtbare Eis.

Schlemihl, der im amerikanischen Original der Kinderserie "Lefty, the Salesman" heißt, also seine Fähigkeiten als Verkäufer schon im Namen trägt, bringt den jungen Zuschauern der Sesamstraße die Marktmechanismen von Angebot, Nachfrage und vor allem Reklame nahe. Sein Motto: Schwächen des Produkts können durch eindringliches Werben ausgeglichen werden. So bringt er Ernie tatsächlich dazu, über den Kauf eines unsichtbaren Eises nachzudenken. Am Ende ist der aber clever genug, das Angebot auch mit unsichtbarem Geld zu bezahlen.

Persönlich und laut - so wollen die Anzeigen sein

Das Prinzip des brüllenden Flüsterns eignet sich hervorragend, um die Funktionsweise des zukunftsweisenden Teils gegenwärtiger Reklame zu illustrieren: Online-Werbung. Anzeigen im Internet wollen so laut sein, dass sie Interesse wecken. Und gleichzeitig so persönlich sein, dass sie Vertrauen aufbauen. Wer beispielsweise in einem Online-Shop ein Paar Schuhe angeschaut oder sich über einen Flug in die Sonne informiert hat, wird anschließend auf dem weiteren Weg im Netz nicht selten sehr persönlich von einem digitalen Schlemihl verfolgt, der in seiner Mantelinnenseite genau dieses Schuhwerk und exakt diese Reiseroute anbietet.

Re-Targeting heißt dieses zielgenaue Werben, das Nutzer zwar oft nervt und manchmal in seiner Genauigkeit verängstigt. Viele reagieren momentan noch mit einer Mischung aus Apathie, Hilflosigkeit und Wut auf die Werbeangebote, die ihnen permanent entgegenspringen. Doch das ständige Wegklicken, Ignorieren, In-die-Tonne-Klicken ist aus Sicht der Anbieter nur noch ein Fehler im System. Denn nervend wirkt die Verfolgungswerbung nur in den Fällen, in denen sie nicht ganz optimal funktioniert. Sprich: dem Nutzer überhaupt auffällt. Der Enkel beispielsweise, der von Hygieneartikeln für Senioren verfolgt wird, weil er nach einem Treppenlift für das Haus der Großeltern gesucht hat. Der Filmliebhaber hingegen, der durch die exakt gleichen technischen Mechanismen auf einen bisher unentdeckten Klassiker hingewiesen wurde, wird diese Empfehlung freudig oder stillschweigend annehmen. Er erwidert den Zugriff, ganz im Sinne des Werbenden. Studien zeigen schon heute, wie erfolgreich personalisierte Werbung ist.

Viel Inhalt trifft auf wenig Aufmerksamkeit

Aktuell arbeiten Werbetreibende also vor allem daran, die Ausnahmen in dem System zu minimieren. Die Menschen noch genauer zu treffen. Zwei zentrale Herausforderungen gilt es dabei zu lösen: Zunächst soll das System besser als bisher erkennen, ob die Suchanfrage aus eigenem Interesse oder zum Beispiel für die Großeltern getätigt wird. Und zum Zweiten darf es den getätigten Kauf nicht länger ignorieren: Der Käufer, der sich online ein Buch bestellt hat, findet keinen Mehrwert in der Anzeige, die ihm exakt dieses Buch abermals penetrant anpreist.

Die Zeiten für Werbung waren jedenfalls schon einfacher. Vor 50 Jahren gab es drei Programme im TV, einige Zeitungen und Magazine und vor allem gar kein Internet. Vergleichsweise viele Augenpaare teilten ihr Interesse auf diese vergleichsweise wenigen Inhalte auf. Die digitale Gegenwart zeichnet sich durch das gegenteilige Verhältnis aus: Viel Inhalt trifft auf wenig Aufmerksamkeit. "In einer Welt voller Informationen bedeutet diese Fülle zugleich einen Mangel an etwas anderem: eine Knappheit von dem, was Informationen verbrauchen", prognostizierte der Sozialwissenschaftler Herbert Simon bereits im Jahr 1971. "Was das ist, liegt auf der Hand: Informationen verbrauchen die Aufmerksamkeit ihrer Empfänger. Folglich erzeugt ein Reichtum an Informationen eine Armut an Aufmerksamkeit."

Wer diese Armut sehen will, muss eine Minute lang ins Internet schauen: Innerhalb von sechzig Internet-Sekunden werden auf Youtube 100 Stunden Videomaterial hochgeladen, mehr als drei Millionen Beiträge auf Facebook geteilt und rund 350 000 Tweets auf Twitter abgeschickt. Diese scheinbar hohen Zahlen werden allerdings relativiert, wenn man weiß, dass im gleichen Zeitraum zehn Millionen Werbeanzeigen im Netz angezeigt werden. Das bedeutet: zehn Millionen Mal brüllendes Flüstern, zehn Millionen Mal "He, du".

Kein Wunder, dass eine Studie aus dem Jahr 2011 zeigen möchte: Es ist 475 Mal wahrscheinlicher, einen Flugzeugabsturz zu überleben, als auf Online-Werbung zu klicken.

Dass die Online-Anzeigen dennoch funktionieren, liegt daran, dass der Klick zwar ihr höchstes, aber eben nicht einziges Ziel ist: Den Kunden auf ein Produkt hingewiesen zu haben ist die erste und grundlegende Aufgabe von Werbung. Dies gelingt auch ohne Klicks, allein durch das "Ad Impression" genannte Anschauen der Anzeigen. Denn was bei Produkten funktioniert, die man leicht per Mausklick kaufen und verschicken kann, stößt bei eher sperrigen Gegenständen wie zum Beispiel einem Auto (noch) an Grenzen. Hier zählt wie bei allen sogenannten Image-Anzeigen, die zum Beispiel die grundsätzlichen Vorzüge einer Eissorte oder einer Schnapsmarke anpreisen, nicht allein die messbare Abverkaufsrate. Hier geht es allein darum, Aufmerksamkeit zu erlangen und diese in recht banale Emotionen zu überführen wie: Marke X ist eine tolle Marke.

Neue Reklame verschleiert die Herkunft

In den kommenden Tagen trifft sich die Branche zu ihrer größten deutschen Messe dmexco in Köln. Dort wird es um zwei große Entwicklungen gehen, die Online-Werbung derzeit bestimmen: Zum einen wächst ein Bereich der Reklame, der alles dafür tut, eben nicht als solche wahrgenommen zu werden. Zum anderen gewinnt derjenige Bereich an Bedeutung, der sich auf die Einbettung der Werbenachricht in den passenden Kontext konzentriert. Wenn ein Flugangebot den Konsumenten genau in dem Moment erreicht, in dem er sich für die Buchung einer Urlaubsreise entscheidet, hat sie natürlich größere Erfolgschancen, als wenn dieser sich gerade auf der Heimreise befindet.

Das Schlagwort für jene Form der Reklame, die ihre Herkunft verschleiern und so aussehen will wie redaktioneller Inhalt, heißt "Native Advertising". Dabei handelt es sich um werbliche Inhalte, die wirken wie redaktioneller Text - häufig auch erstellt mit Hilfe der jeweiligen Redaktion. Die US-amerikanische Seite Buzzfeed, deren Chef Jonah Peretti auch auf der dmexo auftreten wird, setzt sehr stark auf dieses umstrittene Prinzip. Die im Pressekodex gezogene Grenze zwischen Werbung und Redaktion wird dabei permanent neu ausgelotet. Man könnte auch sagen: Grenzen werden auf raffinierte Weise verwischt.

Ähnlich wie Native Advertising setzt auch die sogenannte virale Werbung auf gezielte Verschleierung. Das Prinzip: mit der Werbebotschaft in irgendeiner Weise verbundene Bilder zu produzieren, die möglichst viele Menschen dann bereitwillig über die sozialen Netzwerken weiterverbreiten. Hinter dem bekanntesten Werbespot, der dort momentan zu sehen ist, steckt kein Produkt, sondern eine Hilfsorganisation: Bei der Ice-Bucket-Challenge schütten sich Menschen vor einer Kamera Eiswasser über den Kopf und rufen weitere Personen auf, es ihnen gleichzutun. Eine weltweite Kettenreaktion, die auch von der Situationskomik lebt. Dabei werben die Teilnehmer für die Hilfsorganisation Alsa, die sich dem Kampf gegen die Nervenkrankheit ALS verschrieben hat.

Die zweite Entwicklung der Online-Werbung hat mit dem erwähnten Prinzip der persönlichen Ansprache zu tun, mit dem Versprechen, einen möglichen Kunden zum genau richtigen Zeitpunkt mit dem genau richtigen Produkt zu erreichen. In dieser Woche wurde bekannt, dass Amazon genau auf diesem Feld Google angreifen will. Denn in Wahrheit sind der große Online-Versandhändler und die große Online-Suchmaschine schon heute vor allem große Online-Werber. Das Prinzip dabei: Sie bieten Anzeigenplätze im Umfeld passender Begriffe und Suchwörter, sogenannte kontextsensitive Werbung.

Der Erfolg dieser Online-Werbung liegt darin, dass die Werbebranche als erster Bereich der Kulturindustrie erkannt hat, dass Wert künftig nicht allein über Content (Inhalt), sondern über Kontext entsteht. So bleibt eine Anzeige für das beste Schnitzel der Stadt dann wirkungslos, wenn das Restaurant in dem Moment, in dem der mögliche Kunde sucht, Ruhetag hat - oder das Schnitzel bereits ausverkauft ist. Das "Was" einer Werbung kann im Digitalen um das Wo, Wie, Wann und vor allem für Wen ergänzt werden.

Big Data zählt zu den wichtigsten Hypebegriffen

"Die besten Köpfe meiner Generation denken darüber nach, wie man Leute dazu bringt, auf Werbung zu klicken", formulierte 2011 ein junger Facebook-Angestellter in Referenz auf die erste Zeile in Allen Ginsbergs "Howl", dem großen Gedicht der Beat-Generation. Jeff Hammerbacher, von dem das anspielungsreiche Zitat stammt, arbeitet heute als Data Scientist bei einem Anbieter, der sich auf die Analyse von großen Datenmengen spezialisiert hat: Big Data ist einer der wichtigsten Hypebegriffe der Branche. So begeistert wie inflationär eingesetzt, dass mancher schon an den zweiten Teil des Ginsberg-Zitates denkt, in dem die besten Köpfe seiner Generation "vom Wahnsinn zerstört" werden.

In der Welt des Informationsüberflusses entsteht der Wert von Inhalten aus dem Zusammenhang, in dem sie wahrgenommen werden. Wendy Clark, die als Vizepräsidentin des Marketing-Bereichs bei Coca-Cola arbeitet, sagte im vergangenen Jahr auf einer Konferenz: "Es ist egal, wie gut dein Inhalt ist, wenn er nicht den richtigen Kontext trifft." Je besser das Angebot auf das wirkliche (und nicht nur angenäherte) Interesse des Kunden passt, umso eher wird es als nützlich wahrgenommen, umso eher kommt ein Geschäft zustande. Dieses Prinzip steckt in dem Hypewort "Big Data", und dieses Prinzip ist erkennbar, wenn der Chefökonom von Google, Hal Varian im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vorige Woche fast ausschließlich über Daten und deren Nutzung spricht und anschließend zu der Prognose kommt: "In ein paar Jahren wird es auf Basis von Anzeigen einige neue Dienste geben, die zu unseren Konkurrenten werden."

Das klingt zunächst, als wolle er mit dieser Prognose von der aktuellen Macht seines Arbeitgebers ablenken. Richtig daran ist jedoch, dass Online-Werbung ein vergleichsweise junges Phänomen ist, das sich entwickeln wird - weg von den Prinzipien der Plakatfläche, die für alle gleich aussieht, hin zu maßgeschneiderten Angeboten. So steht auf der großen Werbefläche am Bahnsteig nur ein einziger Preis für die Reise in die Sonne, der für alle gleich ist. Eine digitale Werbung kann auf Basis der Kundendaten Beträge ausspielen, die je nach Nutzer "passen". Sie kann mit anderen Motiven oder gar mit den konkreten Erfahrungen von Freunden des Nutzers werben, die über soziale Netze mit ihm verbunden sind. Kurzum: Sie will den Konsumenten und seine Gewohnheiten immer besser kennen lernen - um ihm zu nützen und um ihn zu überwachen.

Das Datensammeln abzulehnen, wird nicht helfen. Hilfreicher ist es, die Mechanismen zu verstehen

Die Entwicklung trägt beides in sich. Wer das Datensammeln prinzipiell und rundum ablehnt, verkennt das verführerischer Potenzial der Daten - auch für den Nutzer. Damit dieser sich als mündiger Konsument wappnen kann, muss er vor allem verstehen, wie Reklame heute funktioniert. Er muss begreifen, auf welche Weise die Daten zustande kommen, die die Werbung nutzt - und genau wissen, wie viel er von sich preisgibt.

Ein solcher aufgeklärter Konsument war übrigens auch das Ziel der Sesamstraßen-Macher, als sie in den Siebzigerjahren die Figur des Schlemihl erfanden.

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