Ihre Frage:Warum müssen Erstklässler stundenlang stillsitzen?

Ihre Frage: Volle Konzentration: Dieser Erstklässler aus Bayern scheint damit - noch - keine Probleme zu haben.

Volle Konzentration: Dieser Erstklässler aus Bayern scheint damit - noch - keine Probleme zu haben.

(Foto: Armin Weigel/dpa)

Schluss mit Rumtoben: Schule bedeutet für Kinder auch eine Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. Warum eigentlich? Antwort der Redaktion auf eine SZ-Leserfrage.

Von Johanna Bruckner

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Warum müssen Erstklässler stundenlang stillsitzen?

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Von Johanna Bruckner, Redakteurin für Karriere und Bildung SZ.de

Schule bedeutet Sitzen. Die Pädagogik mag sich verändert haben in den vergangenen Jahrhunderten, doch noch immer verbringen Kinder und Jugendliche den überwiegenden Teil ihres Schultages auf Stühlen. Und ja, immer wieder wird ihnen auch Stillsein abverlangt; gesprochen werden darf oft nur nach Aufforderung. Doch warum ist das so? Der Grund findet sich im Erziehungs- und Bildungsauftrag von Schulen, der in den jeweiligen Landesgesetzen konkretisiert wird. Artikel 131 der Verfassung des Freistaates Bayern beispielsweise zählt "Selbstbeherrschung" explizit zu den "obersten Bildungszielen". Außerdem sollten Grundfähigkeiten und -fertigkeiten erworben werden, "die zur unmittelbaren Bewältigung von Anforderungen des modernen Alltags notwendig sind". Dazu zählt eben auch das Stillsitzen - in den meisten Bürojobs wird später genau das erwartet.

"In der Grundschule sollen Kinder lernen, ihre eigenen Bedürfnisse in Einklang zu bringen mit den sozialen Erwartungen, die an sie gerichtet werden", erklärt Joachim Kahlert, Professor für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. "Schulkinder lernen, Rücksicht auf andere zu nehmen und nicht immer das zu machen, was ihnen spontan einfällt, beispielsweise aufzuspringen und durchs Klassenzimmer zu laufen - denn damit stören sie ihre Mitschüler." Allerdings, betont der Experte, sei es längst nicht mehr so, dass Grundschülern abverlangt werde, stundenlang sprach- und bewegungslos dazusitzen. Im Gegenteil: "Heute ist es selbstverständlich, dass Lehrer versuchen, ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen konzentriertem Arbeiten, verbunden mit Aufmerksamkeit und Ruhe, und den motorischen Bedürfnissen der Kinder", sagt Kahlert.

So sieht das auch Christina Müller, Professorin für Didaktik des Schulsports und Bewegungspädagogik an der Universität Leipzig: "Kein Lehrer der ersten Klasse lässt seine Schüler den ganzen Vormittag stillsitzen. Vor der Pubertät haben Kinder ein ausgeprägteres Bewegungsbedürfnis - und dem wird Rechnung getragen." Dieses Bedürfnis sei grundsätzlich unabhängig vom Geschlecht, allerdings würde Jungen häufig ein größerer Bewegungsdrang attestiert: "Da spielt wohl auch die Sozialisierung eine Rolle: Jungen werden von Klein auf zum Fußballspielen nach draußen geschickt."

"Kinder sitzen nicht mehr mit gefalteten Händen am Tisch"

In der Schule findet Bewegung aber nicht nur im Sportunterricht statt. "Rhythmisierter Unterricht" ist das Schlagwort der Schulpädagogik des vergangenen Jahrzehnts. Gemeint ist damit sowohl eine Abwechslung bei den didaktischen Methoden - Frontalunterrichtsphasen wechseln sich mit Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit ab -, als auch Bewegung im eigentlichen Sinne: "Es ist nicht mehr so, dass die Kinder mit gefalteten Händen am Tisch sitzen und die Lehrerin ihnen ein Arbeitsblatt auf den Tisch legt", sagt Kahlert. Tische werden verrückt, um die Sitzordnung der jeweiligen Methode anzupassen; und beim freien Lernen holen sich die Schüler ihre Arbeitsmaterialien selbständig aus dem Regal.

Immer wichtiger wird das Lernen über Bewegung; Informationen sollen nicht nur über das Hören und Sehen aufgenommen, sondern zusätzlich über den Tastsinn erfahren werden. "Eine Übung für die erste Klasse könnte sein, einen neuen Buchstaben mit einem Seil auf dem Boden auszulegen und die Kinder dann barfuß und mit geschlossenen Augen den Buchstaben ablaufen zu lassen", erklärt Bewegungspädagogin Müller. Auch "sinnfreie Bewegungsübungen" zwischendurch, etwa Kniebeugen, könnten Studien zufolge den Lernerfolg unterstützen.

Obwohl das mit dem stundenlangen Stillsitzen in der Grundschule also nicht mehr überall stimmt, in einem sind sich die Experten einig: Mehr Bewegung wäre wünschenswert - auch über die Schule hinaus.

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