Türkei und "Islamischer Staat":Land unter Druck

Syrian refugees flee conflict to Turkey

Kurdische Demonstranten zerstören einen Grenzzaun bei Suruç in der türkischen Provinz Şanlıurfa. Hier sollen innerhalb von nur einer Woche mehr als 160 000 syrische Flüchtlinge angekommen sein.

(Foto: dpa)

Nur wenige Meter von der eigenen Grenze die Dschihadisten, Hunderttausende Flüchtlinge im Land, die Friedensverhandlungen mit den Kurden lahmgelegt: Der Vormarsch der Terrormiliz "Islamischer Staat" ist für die Türkei ein Desaster. Vor welchen Herausforderungen das Land steht.

Von Luisa Seeling

Für die Regierung in Ankara entwickelt sich der Vormarsch des "Islamischen Staats" (IS) zum Albtraum: 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge befinden sich im Land, die Terroristen des IS rekrutieren in der Türkei Kämpfer und schleusen ausländische Dschihadisten nach Syrien. Vor allem aber fürchtet Ankara, dass die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK durch den Kampf gegen IS gestärkt wird. Die drängendsten Probleme im Überblick.

Anderthalb Millionen syrische Flüchtlinge befinden sich bereits im Land, und es kommen noch mehr.

Seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien vor dreieinhalb Jahren hat die Türkei mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land. Der türkischen Regierung zufolge halten sich 1,5 Millionen im Land auf. Innerhalb von nur einer Woche seien mit der jüngsten Fluchtwelle aus Nordsyrien mehr als 160 000 Menschen über die Grenze gekommen. Es handelt sich dabei vor allem um syrische Kurden, die aus der Stadt Ain al-Arab (Kurdisch: Kobanê) und den umliegenden Dörfern geflohen sind. IS-Kämpfer hatten etliche Dörfer besetzt und Ain al-Arab belagert.

Alleine kann die Türkei den Flüchtlingsstrom kaum bewältigen. Deshalb hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan von der internationalen Gemeinschaft und vor allem den europäischen Ländern mehr Hilfe gefordert. Die Europäische Kommission hat gerade zwar weitere 215 Millionen Euro für die syrische Krisenregion zugesagt. Doch nur 50 Millionen davon fließen in die direkte humanitäre Hilfe, und nur ein Bruchteil davon erreicht die Türkei.

Noch immer überqueren nach Angaben des UNHCR syrische Flüchtlinge die türkische Grenze nördlich von Ain al-Arab, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Weil es nicht genug Auffanglager gibt, landen die Flüchtlinge zu Tausenden in den Städten. Etwa im kurdischen Suruç, einer 60 000-Einwohner-Stadt in der Provinz Şanlıurfa. Seit vergangenem Wochenende hat sich die Einwohnerzahl mehr als verdoppelt, genau weiß es niemand. Die Solidarität der Bewohner ist groß, doch die lokale Infrastruktur kann der Belastung kaum standhalten.

Schon im April dieses Jahres warnte die International Crisis Group in einem Bericht, dass soziale Spannungen in der Türkei zunehmen könnten. In den Städten bilden syrische Flüchtlinge ein neues Elendspräkariat - ohne legale Arbeit, ohne Papiere, die Kinder ohne Schulausbildung, bettelnd auf der Straße. Die Organisation schätzt, dass mindestens zwei Drittel, vielleicht sogar vier Fünftel der Flüchtlinge aus Syrien außerhalb von Lagern leben. In einigen Grenzprovinzen wie Kilis lebten inzwischen mehr Syrer als türkische Einwohner.

Der "Islamische Staat" hat sich in der Türkei ein gut funktionierendes Netzwerk geschaffen. Und Ankara ließ die Miliz gewähren.

Die Türkei muss sich vorwerfen lassen, den IS mit groß gemacht zu haben. Denn der Regierung war lange jede Gruppe recht, die gegen Syriens Diktator Baschar al-Assad kämpft. Heute operieren die Dschihadisten längst auch auf türkischem Boden. Sie rekrutieren Kämpfer in Städten wie Gaziantep, das im Südosten liegt, aber auch in Istanbul und Ankara - sogar in der Kurden-Metropole Diyarbakır. Das geht unter anderem aus Recherchen eines Journalisten-Teams der Zeitung Hürriyet hervor, das den Spuren der IS-Anwerber gefolgt ist. Jüngst lieferte ein 100-seitiger Bericht des türkischen Geheimdiensts Hinweise auf die Aktivitäten des IS in der Türkei.

Ein weiteres Problem ist, dass nach Erkenntnissen westlicher und türkischer Geheimdienste ausländische Dschihadisten ungehindert über die Türkei nach Syrien einreisen konnten, um sich dem IS und anderen Gruppen anzuschließen. Nach eigenen Angaben hat die türkische Regierung nun die Grenzüberwachung verstärkt, um den Transit zu verhindern. Auch die Bundesregierung will potenziellen Terrorkämpfern die Ausreise aus Deutschland durch die Kennzeichnung ihres Personalausweises erschweren. Der UN-Sicherheitsrat hat eine Resolution gegen sogenannte Foreign Fighters einstimmig angenommen. Sie beinhaltet klare Aufforderungen an alle UN-Mitgliedsstaaten, ihre Gesetze dem Kampf gegen Dschihadisten aus dem Ausland anzupassen.

Ankara hatte seine Zurückhaltung monatelang damit begründet, dass sich 49 Mitarbeiter des türkischen Konsulats in Mossul in der Gewalt des IS befanden. Seit einer knappen Woche aber sind die Geiseln frei, Medienberichten zufolge wurden sie gegen gefangene IS-Kämpfer ausgetauscht.

Der Kampf gegen IS gefährdet den Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden.

Eigentlich befindet sich die Türkei im Friedensprozess mit den Kurden. Ende 2012 nahmen die Regierung in Ankara und die PKK Friedensverhandlungen auf, im März 2013 riefen die Aufständischen eine Waffenruhe aus. Die Regierung von Ahmet Davutoğlu hatte gleich nach ihrem Amtsantritt vor wenigen Wochen bekräftigt, dass die Aussöhnung weiterhin oberste Priorität haben soll. Doch nun will die Regierung die "Road Map" des Friedensprozesses offenbar ändern: Einige Verhandlungspunkte sollen angesichts der Bedrohung durch den IS verschoben werden, berichten türkische Medien.

Für Ankara ist die Lage kompliziert: Einerseits haben Kurden und Türken nun einen gemeinsamen Feind, die IS-Terroristen. Andererseits beobachtet die Regierung argwöhnisch, was die Kurden im Grenzgebiet treiben.

Zumal inzwischen auch die PKK zum Kampf gegen den IS mobilisiert. In einem Aufruf der Organisation, aus dem die prokurdische Nachrichtenagentur Firat zitierte, hieß es: "Es gibt im Widerstand keine Grenze mehr". Die PKK wirft darin der türkischen Regierung vor, den IS zu unterstützen: "Jede Kugel, die von der IS-Verbrecherbande auf den Norden Kurdistans abgefeuert wird, ist vom türkischen Staat abgefeuert worden." Die Kurden sollten "entsprechenden Widerstand leisten".

Dass der Kampf der Kurden gegen den IS die Nationalisten der PKK stärkt, ist die große Furcht Ankaras. Im Südosten des Landes gibt es längst Gebiete, in denen praktisch nur noch die kurdisch beherrschten Rathäuser das Sagen haben. Und in der türkischen Grenzstadt Suruç kam es zu Scharmützeln zwischen Kurden und türkischen Sicherheitskräften. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein. Ein paar Hundert Männer waren durch den Zaun nach Syrien gestürmt, darunter viele, die zuvor ihre Familien auf die türkische Seite in Sicherheit gebracht hatten.

Ankara ist von allen Seiten unter Druck. Und auch die Gefahr von Anschlägen in türkischen Städten steigt.

Für die türkische Regierung ist die Situation vertrackt, der Druck kommt dabei von allen Seiten. Sie muss nicht nur 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge versorgen. Sie muss nun auch den Erwartungen des Bündnisses gegen den IS gerecht werden. Vor wenigen Tagen hatte US-Außenminister John Kerry das Nato-Land ermahnt, sich stärker am Kampf gegen die IS-Milizen zu beteiligen, nun da die 49 Geiseln in Sicherheit seien.

Tatsächlich hat Präsident Erdoğan eine militärisches Eingreifen seines Landes im Kampf gegen die Terrormiliz nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen. Die mögliche Unterstützung der internationalen Allianz gegen die Extremisten "beinhaltet alle Arten, militärisch, politisch, alles", sagte er vor Reportern. Er werde mit seiner Regierung bald darüber beraten. Als vor zwei Tagen aber Augenzeugen berichteten, ausländische Kampfflugzeuge seien von der Türkei aus nach Syrien geflogen, um dort die Stellungen des IS zu bombardieren, dementierte Ankara diese Berichte. Der türkische Luftraum sei für das Bombardement nicht genutzt worden, so die Stellungnahme.

Sollte sich die Türkei logistisch oder militärisch an Operationen in Syrien beteiligen, wäre einer Umfrage zufolge derzeit eine Mehrheit der Türken einverstanden. Das Meinungsforschungsinstitut Metropoll ermittelte, dass 52 Prozent der Befragten ein Eingreifen befürworten, knapp 30 Prozent seien dagegen. Unter den Anhängern der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP lag die Zustimmung leicht unter dem Gesamtwert, bei 47 Prozent.

Für die Türkei ist der Kampf gegen den IS heikel, weil davon auszugehen ist, dass die Islamisten sich mit Anschlägen in türkischen Städten rächen könnten. Schon in der Vergangenheit gab es blutige Anschläge, die mit dem Bürgerkrieg in Syrien zusammenhängen sollen. Im Mai 2013 etwa starben in der Stadt Reyhanlı bei zwei Autobombenattentaten mehr als 50 Menschen. Die US-Botschaft hat am Mittwochabend wegen der Bombardements gegen den IS vor Terroranschlägen in der Türkei gewarnt.

Schließt sich Ankara der Koalition gegen den IS nicht klar an, düpiert es seine Partner im Westen und setzt sich dem Vorwurf der mangelnden Bündnistreue aus. Mancher Kritiker im In- und Ausland hat der Regierung gar vorgeworfen, in ihrer Passivität zeige sich eine ideologische Nähe zum IS und anderen sunnitischen Islamisten-Gruppen, die zurzeit in Syrien gegen Baschar al-Assad kämpfen. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Regierung unterschätzt hat, was sich an ihrer Grenze zusammenbraut.

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