Tourauftakt von Helene Fischer:Natural Born Perfect

Helene Fischer

Kapitalistischer Glücksfall schlechthin: Helene Fischer.

(Foto: Daniel Reinhardt/dpa)

Die Scheinriesin Helene Fischer triumphiert bei ihrem Tourauftakt. Allen Glitzerkostümen zum Trotz wirkt die ganze Show nicht aufgesetzt, sondern einfach nur: echt. Versuch der Annäherung an ein Phänomen.

Von Jens-Christian Rabe

Es stimmt, es waren alle da bei diesem Tourauftakt des größten deutschen Popstars dieser Tage in einem ausverkauften Gewerbegebiet-Betonkarton namens Sachsenarena in Riesa. Donnerstagabend, Punkt 20 Uhr. Also fast alle, 6000 genau genommen, davon aber sehr viele verschiedene: Sehr rührend bestens gelaunte vollschlanke rosa Tüllwolken. Diverse Helene-Teams: fröhliche Damengruppen mit einheitlichen Fan-T-Shirts, sogar eine Gruppe johlender junger Männer in Lederhosen und T-Shirts mit dem Aufdruck "Bayern des sam mir zur Helene gangad mir". Kugelrunde ernste Männer in Jack-Daniels-Kapuzenpulloverjacken. 10-jährige Mädchen, ihre Eltern, deren Eltern. Helene-Fischer-Doppelgängerinnen, Abi-Ball-Prinzessinnen, ehemalige Abi-Ball-Prinzessinnen. Gestandene Männer, die aussehen wie Stars der volkstümlichen Musik (Sakko, Jeans, leicht schüttere Stoppelfrisur, randlose Brille). Kraftsportler mit Kopftuch und altem Tour-Shirt ("Helene Fischer Tour 2011"). Und - als Begleiter der rosa Tüllwolken: Schnurrbärte. Sehr viele stolze Schurrbärte.

Nicht da waren nur: alle Arten von Hipstern und Hipster-Bärten. Allerdings auch nicht die notorischen Hipster-Hasser. Mit anderen Worten: jegliche schlechte Laune war vollständig abwesend. Anwesend dafür: eine vollkommen tiefenentspannte, absolut unneurotische Fielmann-Crowd. Deutschland im Jahr 2014. Optimale Bedingungen für den großen Show-Triumph.

"Nur wer den Wahnsinn liebt, kann mit Dir leben"

Und den bekommt Helene Fischer von der ersten Sekunde: "Unser Tag"! Und als bald gekonnt Justin Timberlakes R'n'B-Schubser "Sexy Back" angespielt und dann auch noch "Get Lucky" von Daft Punk von einer großen Band samt Musical Director wirklich tight dahinmusiziert wird und die - wie sich später herausstellt - ausnahmslos amerikanischen Showtänzer die Sache genau so im Vollspann vorturnen, wie das heute eben gemacht wird, wenn man es wirklich ernst nimmt, und nicht nur mit halbem Budget nachtanzen will - als man all dies so erlebt hat, da schluckt man dann schon, wenn einem plötzlich wieder so Zeilen ins Ohr wehen wie "Nur wer den Wahnsinn liebt, kann mit Dir leben". Weil Helene Fischer ja wirklich was kann und von den 6000 Hingerissenen ja auch alle bestimmt irgendwas können, aber dass auch nur ein einziger den Wahnsinn ertragen könnte, das - Verzeihung - ist doch wirklich Unfug.

Obwohl, es kommt natürlich - verdammter Werterelativismus - auf den Wahnsinn an. Wenn man sich zum Beispiel das Bühnenbild genauer ansieht, das aus einem riesigen, begehbaren Pappmaché-Ast besteht und so ein Mittelerde-Harry-Potter-Swarovski-Paradies antäuscht, dann ist das natürlich schon verrückt. Oder wie sie dann einmal auf diesem Ast in einem großen weißen Kapuzenumhang so als Zauberschlumpf umherschreitet - darauf muss man erst mal kommen. Oder diese Ansagen: "Ich danke Euch, das Feuerwerk der Gefühle geht weiter, seid Ihr bereit?"

Irritierend alterlos

Ja, ja, wir sind bereit, logo. Weil wir wissen ja alle, hach: "In zerrissenen Jeans um die Häuser zieh'n, das kann ich mit keinem anderen". Einerseits. Andererseits missglückt ihr nicht mal "Purple Rain". Und dann ist sie als Moderatorin ihrer selbst wieder ein Totalausfall. Sogar als sie am Ende auf einem riesigen, bei Drachenstich in Furth im Wald geborgten goldenen Metallvogel durch die Halle schwebt und ganz ergriffen ist von der ganzen Zuneigung. Sie wirkt dabei nie so, als habe sie sich bislang auch nur eine Sekunde überlegt, wie man das wirklich formvollendet machen könnte, so als Star. Sie singt lieber noch eine Runde formvollendet "My Heart Will Go On" von Celine Dion.

Abgesehen von ihrem Talent als Musical-Darstellerin und Sängerin ist alles wirklich verblüffend klitzeklein an dieser Frau, die auch noch kaum 1,60 Meter groß ist, aber so dünn und makellos proportioniert, dass das gar nicht auffällt. Eine Scheinriesin. Noch dazu mit einer irritierenden Alterslosigkeit. Sie sah zu Beginn ihrer Karriere vor knapp zehn Jahren im Grunde schon so aus wie jetzt und sie wird im Normalfall in zwanzig Jahren auch noch exakt so aussehen wie jetzt. Ganz neues Alter: "zwischen 19 und 49".

Einfach nur: echt

Wenn es ihr zu eng wird, erzählt sie gern, gehe sie in die Berge/in die Natur/in den Wald. Ein unnahbarer Star sei sie nicht, wolle sie auch nicht sein. Sie möchte so perfekt wie möglich sein, aber kein Kunstobjekt, sondern ein Mensch. Sie wolle ihr Publikum immer wieder überraschen, wenn andere bei Konzerten aber einfach nur eins zu eins ihre Platten abspielten, sei das auch eine Möglichkeit. Sicher, sie habe auch ihre Macken. Und natürlich hat sie auch schon mal Tränen in den Augen, wenn sie ein Gefühl überrumpelt. All der Luxus, der sie umgebe, sei sehr schön, aber Glück sei für sie, wenn sie etwas Schönes sehe, zum Beispiel einen Schmetterling. Beim Traumschiff spielte sie eine Reiseleiterin.

Aber jetzt kommt's. Das ist in seiner ganzen läppischen Streberhaftigkeit zwar leicht absurd. Wirkt aber, wie die ganze Show, gar nicht aufgesetzt, sondern einfach nur: echt. Und allen Weisen, die uns die Erkenntnis eingebrannt haben, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe, muss man leider antworten: Doch, das falsche! Also im falschen Leben ist das falsche Leben das vollkommen richtige! Und zwar mit erstaunlich unpeinlichen, eher zugeknöpften Glitzerkostümen und ausgebildeter Musical-Stimme.

Das ist so ungefähr die Situation. Und es tut schon ein bisschen weh. Denn es könnte in die Nähe des Grundes führen, warum sich alle kritischen Beobachter, die in den vergangenen Monaten in großen Artikeln versucht haben, das Phänomen Helene Fischer zu durchleuchten, das Falsche, Kalkulierte, Abgezockte, tatsächlich Echte an dieser Frau zu enthüllen - warum sie sich, wie wir hier auch gerade, alle die Zähne daran ausgebissen haben.

Es scheint, als hieße Helene Fischer ihr Helene-Fischer-Sein vorzuwerfen, ziemlich genau dasselbe wie Poliermittel vorzuwerfen, dass es poliert. Oder Gras, dass es wächst. Oder Grün, dass es grün ist.

Inszenierung der normalsten Normalität

Und das ist das Ende aller Kritik. "Teflon Lene", denkt man - und verwirft die Idee gleich wieder, weil einem gar nichts einfällt, was an ihr abrutschen könnte. Damit ist die Frau der kapitalistische Glücksfall schlechthin. Natural Born Perfect. Anders gesagt: Die Frau ist der lebende Beweis, dass der Mainstream-Entertainment-Code geknackt wurde. Wobei sie nicht einfach eine Version des Codes ist, sondern selbst der Code. Wenigstens der deutsche. Was - je länger man darüber nachdenkt - eine sehr rätselhafte mittlere Monströsität hat.

Und so ist auch die Show am Ende wirklich das bislang kaum Vorstellbare: die Inszenierung der normalsten Normalität als ganz große Unterhaltung. Sogar das ZDF hat sich das bei Wetten, dass..? nie so konsequent getraut. Eine Helene-Fischer-Show muss man sich also vielleicht vorstellen wie Wetten, dass...? ohne die irren Wetten. Oder wie das Oktoberfest voller Besucher, die zwar reichlich Bier nachbestellen, aber niemals betrunken werden. Wäre Helene Fischer ein Auto, wäre sie ein Audi A1 oder so eine Golf-Sonderedition mit kleinen bunten Glitzer-Pünktchen hinten auf dem Heck. Ich glaube, sie hat auch eine große Zukunft in China.

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